Autonomiephase Zwischen emotionaler Überforderung und Selbstüberschätzung: Was hilft jetzt?

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Frust, Verzweiflung, Hilflosigkeit: In der sogenannten Autonomiephase genügen oft Kleinigkeiten, um Kinder ausrasten zu lassen. Was passiert da? Eltern-Autorin Daniela Lukaßen-Held hat bei ihrem Dreijährigen mal genau hingeschaut – und zwei Expertinnen um Rat gefragt.

Unser Dreijähriger liegt auf dem Bürgersteig und brüllt. Hochroter Kopf, den kleinen Koffer, den er unbedingt ziehen wollte, hat er hingeschmissen. Direkt neben die Mülltonne. Wir stehen ratlos daneben, irgendwo in Ulm, der letzten Station unseres Familienurlaubs und werden von Passanten mit neugierigen Blicken bedacht. Was ist jetzt schon wieder los?

Eine Erklärung darauf bekam ich später, in einem Gespräch mit Fabienne Becker-Stoll, sie ist Psychologin und Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP) in München: "In einer solchen Situation steht das Kind oft am Rande seiner Kraft“, sagt sie. Eine fremde Umgebung, eine neue Situation, hinter Mama und Papa herlaufen, ein Koffer, den der Dreijährige zwar ziehen möchte, der ihn aber vor einige motorische Herausforderungen stellt – und plötzlich steht mit dem Mülleimer ein Hindernis im Weg. "In diesem Moment zeigt sich die emotionale Überforderung“, sagt die Kindheitsexpertin. "Das Kind ist mit seinen Möglichkeiten der Stressbewältigung überfordert.“

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Selbstregulation noch nicht möglich

Den Umgang mit Stress müssen Kinder erst lernen, Selbstregulation ist in den ersten Jahren noch viel verlangt. Hinzu kommt ein bei Zwei- und Dreijährigen weit verbreitetes Problem: Selbstüberschätzung. Klar: Unser Sohn möchte sein Köfferchen allein ziehen. Aber kann er das überhaupt – wenn das Kopfsteinpflaster so holprig ist? Und wenn Mama und Papa, die schnell ins Hotel wollen, das Tempo vorgeben? "Ein Kind ist natürlich stolz, wenn es mithalten kann, und möchte das auch schaffen, wenn es eigentlich zu schwer ist“, sagt Becker-Stoll. "Aber dann reicht eben schon dieses kleine Hindernis, und die Überforderung ist da.“

Heißt im Umkehrschluss: Unser Dreijähriger möchte, kann aber nicht. In der sogenannten Autonomiephase, die in der Regel im Alter zwischen zwei und vier Jahren stattfindet, ist das normal. Und enorm wichtig für die Entwicklung. Denn endlich nehmen sich kleine Menschen jetzt als eigenständige, unabhängige Persönlichkeiten wahr. Sie entdecken ihren Willen und stecken sich Ziele. Wenn das nicht gelingt, ist Frust vorprogrammiert. Und das sorgt für Stress.

Nach ein paar Augenblicken tiefen Durchatmens auf dieser Straße in Ulm und beruhigenden Worten wissen wir, was das Fass zum Überlaufen gebracht hat: Unser Sohn möchte nicht rechts, sondern links mit dem Koffer an der Mülltonne vorbeilaufen. Nachdem Papa das gemeinsam mit ihm gemacht hat, ist alles gut. Wir gehen bewusst langsam weiter. Schließlich haben wir Urlaub.

Emotionen müssen raus

Wenige Tage später: Wir stehen in einer Buchhandlung. Das heißt: Ich stehe, das Kind liegt neben einem Regal. Stein des Anstoßes ist ein Pixibuch. Weil exakt diese Geschichte aber schon in seinem Kinderzimmer im Regal steht, schlage ich vor, dass wir einen anderen Titel aussuchen. Das Kind ist außer sich und ruft: "Ich will das Buch“, was wiederum meinen Adrenalinpegel in die Höhe treibt. Gestresst ist mein Sohn, der da mit rotem Köpfchen brüllend auf dem Boden liegt, auch.

Was oft irrtümlich als "Er will doch nur seinen Willen durchsetzen“ abgetan wird, ist in Wirklichkeit der komplette emotionale Overflow. Das Kind schafft sich ein Ventil, die Emotionen müssen raus. Dass das nicht immer leise und gesittet geschieht, kann jede und jeder nachfühlen, der einmal im Fußballstadion seine Mannschaft angefeuert, beim Tor gejubelt und bei der Schwalbe des Gegners lauthals gemeckert hat. Mit ruhig und besonnen ist es da meist nichts. Wenn Emotionen im Spiel sind, werden auch wir Großen schnell laut.

"Grundsätzlich ist es für Eltern wichtig zu wissen, dass Wut zur Grundausstattung unserer Gefühle gehört, wie auch Freude und Angst“, sagt Kathrin Boßmann. Sie ist psychologische Beraterin in Ratingen und coacht Eltern in Erziehungsfragen. "Wut ist ein Symptom dafür, dass für das Kind in der aktuellen Situation etwas nicht in Ordnung ist. Es will mit seiner Reaktion darauf aufmerksam machen.“

In der Situation besonnen reagieren

Aber zurück in die Buchhandlung: Ich merke, wir müssen beide raus aus der Situation. Ich lasse alles stehen und trage mein Kind an die frische Luft. Wir hocken neben der Tür, schauen uns an – und dann drücke ich meinen wütenden kleinen Sohn fest an mich. Der ist inzwischen gar nicht mehr so wütend. Nach ein paar Minuten gehen wir wieder rein, Hand in Hand. Was sagt die Psychologin dazu?

"Ein Dreijähriger versteht noch nicht wirklich, was es mit Kaufen und Besitzen auf sich hat“, sagt Fabienne Becker-Stoll. Dass exakt so ein Buch mit der gleichen Geschichte bereits zu Hause liegt, erfasst er in diesem Moment nicht, und genauso wenig versteht er, was es heißt, Geld auszugeben. Sicher ist nur: Er möchte genau dieses Buch haben. Jetzt! Und wenn dieser Wunsch nicht erfüllt wird, empfindet er das als Verlust. Und ein Verlust macht traurig.

Was also tun? Nachgeben und das Buch doch kaufen? "Ich hätte das in dem Moment vielleicht gemacht“, sagt Becker-Stoll. "Es ist legitim, in so einer Situation auch mal den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen“, sagt Becker-Stoll.

Wenn so eine Lösung aber nicht möglich ist, hilft es, tief durchzuatmen und sich auf Augenhöhe zu seinem Kind zu begeben, rät Coachin Kathrin Boßmann: "Aber nur berühren, wenn es das in dem Moment zulässt, und leise sprechen: 'Ich verstehe, dass du dich ärgerst – aber gleichzeitig möchte ich, dass du aufhörst zu schreien, damit wir gemeinsam eine Lösung finden.'“

Und wie verhält man sich, wenn andere Leute im Geschäft interessiert zugucken oder die Situation mit ungefragten Ratschlägen kommentierten? "Denen begegnen wir entweder mit Nichtbeachtung“, sagt Kathrin Boßmann, "oder Sie sagen: 'Das kennen Sie ja sicher von Ihren eigenen Kindern‘ und wenden sich wieder Ihrem Sohn zu. Die Botschaft ans Kind ist immer: Dein Wutausbruch gefährdet zu keiner Zeit unsere Beziehung! Ich bin an deiner Seite, und wir werden gemeinsam einen Ausweg suchen.“

Allein machen stärkt das Selbstbewusstsein

Neuer Tag, neue Situation. Die Sonne scheint, wir haben ein Eis gegessen. Unbedacht nehme ich den leeren Eisbecher meines Dreijährigen und werfe ihn in den Mülleimer vor der Eisdiele. Die gute Laune ist in Sekundenschnelle dahin. "Ich wollte den da reinwerfen“, brüllt das Kind und ist nicht mehr zu beruhigen. Und wieder mal frage ich mich: Was ist denn nun daran so schlimm?

"Kinder in diesem Alter stellen fest, dass sie etwas allein können“, sagt Becker-Stoll. In diesem Fall also: den Eisbecher in den Mülleimer werfen. Ein paar Wochen vorher waren sie vielleicht noch zu klein, aber nun reichen an den Rand des Abfallkorbs heran und können ihren Becher selbst entsorgen. Das macht stolz! Die Expertin gibt zu bedenken: "Wenn sie etwas allein können, anderen damit vielleicht sogar helfen, fühlen sie sich als ein wertvoller Teil dieser Gesellschaft.“ Und dieses wertvolle Gefühl mache ich mit einem einfachen Anheben des Deckels zunichte.

Aber nach dem Eisessen war das Kind erst mal in den Brunnen gefallen – oder vielmehr der Becher in den Mülleimer. Mein Kind weint, ich ärgere mich über mich selbst. Und die Eisverkäuferin? Die reichte schweigend einen neuen, leeren Eisbecher über den Tresen. Mit lautem Knallen des Mülleimerdeckels landet er da, wo die anderen schon sind, und mein Sohn schaut mich stolz an. Manchmal kann es so einfach sein.

Strategien zur Gefühlsregulierung:

· Bewegung: Rennen, Klettern, Toben – einigen Kindern hilft das, um die eigenen Gefühle zu regulieren.

· Wut rauslassen: in ein Kissen boxen oder einmal ganz laut brüllen – kann ein Kind seiner Wut körperlich Ausdruck verleihen, verarbeitet es aufgestaute Emotionen besser.

· Körperkontakt: dem Kind im wahrsten Sinne des Wortes Halt geben, indem es etwa umarmt wird.

Drei Tipps, die die emotionale Entwicklung fördern

· Gefühle benennen: "Du bist wütend“ – so lernt das Kind, die eigenen Emotionen einzuordnen.

· Gefühle ernst nehmen: Sätze wie "Du musst nicht wütend sein“ führen nicht weiter. Stattdessen nachfragen: "Was ärgert dich?“

· Gefühle annehmen: Kinder müssen Gefühle zeigen dürfen. Nur so lernen sie einen gesunden Umgang mit Emotionen.

Lesetipp

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