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Babys brauchen Körperkontakt

Die Entwicklungs-Psychologin Heidi Keller erforscht den Einfluss der Kultur auf die Erziehung. Und stellt fest, dass wir Einiges von afrikanischen Stämmen lernen können.

"Zurück zum Ursprung"

Zugegeben, eine Industriegesellschaft wie die unserige fordert andere Erziehungswege als die der Naturvölker. Doch haben nicht alle Eltern und Babys auf der Welt etwas Gemeinsames? Etwas, was uns alle verbindet?

Seit zwanzig Jahren untersucht Heidi Keller, wie Eltern mit ihren Babys umgehen - an der Universität Osnabrück, wo sie das Fachgebiet Entwicklung und Kultur leitet. Zahlreiche Forschungsreisen hat sie nach Asien, Afrika und Lateinamerika geführt. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist es, die Eltern-Kind-Beziehungen in verschiedenen Kulturen zu untersuchen, um eine fundierte Anwort auf die Frage zu geben: Was können Eltern tun, um dem Kind einen optimalen Start ins Leben zu bereiten?

Zu Besuch bei den "Nso" in Afrika

In einem Dorf in Westafrika, das die Forscherin seit vielen Jahren für ihre Studien besucht, hat sie etwas wieder entdeckt, was bei uns ein wenig verloren gegangen ist: Das Vertrauen auf den eigenen Instinkt. Die Mütter der "Nso", einem Volksstamm in Kamerun, besuchen keine Elternkurse, haben keine Bibliothek mit verschiedensten Ratgebern bestückt, hören keine wissenschaftlichen Vorträge über das bestmögliche Erziehen. Sie vertrauen auf ihren Instinkt.

Intensiver Blickkontakt, auch Face-to-Face-Verhalten genannt, findet man bei den afrikanischen Müttern selten. In Deutschland hingegen hat diese Art elterlicher Pflege stark zugenommen: Bereits ein Säugling wird als eine eigene Persönlichkeit wahrgenommen, man spricht ihn an und erwartet eine Antwort. Vom ersten Moment wird der junge Mensch auf Eigenständigkeit und Selbständigkeit getrimmt, damit er alleine lebensfähig ist - eine Haltung, die afrikanischen Müttern sehr fremd ist.

Vielmehr kommt es bei den Nso darauf an, die Kinder möglichst schnell so zu erziehen, dass sie der Gemeinschaft etwas geben können. Sie leben alle zusammen in einem Dorf, ohne fließendes Wasser, und sind auf gegenseitige Hilfe angewiesen.

Bereits die jungen Geschwister behüten den Säugling oder tragen ihn, während die Eltern auf dem Feld arbeiten - eine Vorstellung, die uns wiederum fremd ist. Das Wissen, wie man mit einem Neugeborenen umgeht, wird ganz früh erlernt und in der Familie weitergegeben. In unserer westlichen Welt ist das eigene Kind oftmals der erste Säugling, den man in den Händen hält, im Durchschnitt sind deutsche Mütter 30 Jahre alt.

Der Körperkontakt - Wichtig für das Baby

Auch Körperkontakt spielt eine unterschiedliche Rolle in den verschiedenen Kulturkontexten. Für die Nso zum Beispiel ist Körperkontakt sehr, sehr wichtig. Sie sagen: "Mutter und Kind müssen einander direkt fühlen, Haut zu Haut Kontakt haben, um glücklich zu sein." Hingegen die Mütter bei uns sind der Meinung, dass man das Alter des Kindes sehr wohl in Betracht ziehen muss, dass bestimmte Faktoren berücksichtigt werden müssen, wann ein Kind den nächsten Erziehungsschritt erlernen kann.

Die Nso-Mütter haben andauernd Körperkontakt mit ihren Kindern. Sie tragen die Kinder auf dem Rücken, sogar, wenn sie ihre Hausarbeit verrichten. Dies ist sehr wichtig, ein Baby kann nie genug Körperkontakt bekommen, um Liebe, Zuneigung, ja die Mutter zu spüren.

Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die physische Stimulation. Die Nso glauben, wenn man das Kind auf und ab bewegt, trägt es dazu bei, dass es sich gut und glücklich fühlt und dass es wächst. Deutsche Mütter dagegen meinen, dass sich die motorischen Fähigkeiten des Kindes weniger gut entwickeln können, wenn man das Baby immer wieder aufhebt und immer wieder vom Boden weghebt. Das Kind sei für seinen Entwicklungsstatus überfordert, man verlange etwas von ihm, das es noch nicht in diesem Alter tun kann, und dass es von selbst beginnen wird, diese Bewegungen zu machen, wenn es reif dazu ist.

Der Wert der Intuition

Sollen wir nun alles übernehmen, was die Nso-Eltern mit ihren Kindern machen? Nein, keinesfalls. So Heidi Keller. Vielmehr sollten wir daraus lernen, dass es einen universellen Erziehungsgeist gibt, etwas, was allen Müttern weltweit gemeinsam ist: Es ist die innere Stimme, der Instinkt, auf den zu hören es sich lohnt. Und der bei uns ein wenig verlorengegangen ist. Ihn wiederzuentdecken, dafür plädiert die Entwicklungspsychologin.

Auch wenn Intuition nicht bis ins Letzte erklärt werden kann, so hat sie doch etwas damit zu tun, dass wir zwei Hirnhälften besitzen. Die linke Hirnhälfte ist die logische, rationale, analytische Hälfte. Hier finden die Denkvorgänge, die mit Zahlen, Formeln, Sprache, Schrift, Planung und Ordnung zu tun haben. Kontrollierte Gefühle werden hier wahrgenommen. Die rechte Hirnhälfte ist die bildhafte, kreative, künstlerische und spontane Hälfte. Sie ist die gefühlsorientierte Hälfte. Über den "Balken" sind beide miteinander verbunden.

Um angemessen reagieren zu können, brauchen wir beide Hirnhälften. Kleinste Reize wie Emotionen oder Gefühlsmomente auf beiden Seiten genügen schon, um eine Vernetzung zuzulassen, die wir in manchen Situationen nicht nachvollziehen können, die aber zu einem untrüglichem "intuitiven" Gefühl führt. Stress kann dazu führen, dass die Hirnhälften nicht optimal zusammenarbeiten, weil die Reizübertragung über den Balken blockiert ist. Rationale Aspekte werden dann nicht mit intuitiven Aspekte verknüpft. Im entspannten Zustand entwickelt sich Intuition am besten. Intuition hat also sehr viel mit Erfahren, Wahrnehmen, Offenheit und Sensibilität zu tun. Sie ist eine wichtige Ergänzung zur Vernunft und Logik, weil wir viele Entscheidungen mit Kopf und Bauch treffen.

Im entspannten Zustand läßt sich am besten die innere Stimme ergründen. Ein Spaziergang zum Beispiel hilft, die Gedanken zu sammeln, in sich zu gehen und nachzudenken. Oder ein kleines Schläfchen kann dazu beitragen, sich vom Alltagsstress zu erholen und neue Kraft zu tanken. Entspannt kann man so wieder auf seine innere Stimme hören, die einem sagt, was richtig und was falsch ist.

Eltern und Baby bilden eine Einheit, bei den Nso fast noch mehr als bei uns. So wächst das Kind in der Familie auf, wird von einer gesamten Generation aufgezogen. Der Opa wie das kleine Geschwisterchen kümmern sich um die Belange des Neugeborenen. Wir können davon lernen, und unseren Kindern mit den Vorteilen unserer hochentwickelten Zivilisation Geborgenheit, Sicherheit und ein entspanntes Umfeld bereiten. Und auf unsere innere Stimme wieder hören, die manchmal die richtige Entscheidung hervorrufen kann.

Über Heidi Keller

Heidi Keller, Dr. rer. nat., geb. 1945. Seit 1984 Professorin für Psychologie (Fachgebiet Entwicklung und Kultur) an der Universität Osnabrück.

Schwerpunkt ihrer Studien sind die Unterschiede in der Kommunikation zwischen Eltern und Kleinkindern in verschiedenen Kulturen. Sie forschte in Costa Rica, Kamerun, Indien und den USA. Sie hat in den jeweiligen Ländern Eltern beim Umgang mit Kindern gefilmt und sie nach Erziehungsmethoden befragt.

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