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Gründe können verschieden sein

Tatjana wollte ihrem Sohn gern die Brust geben, bekam zum Start aber nicht die richtige Unterstützung. Emma nimmt Medikamente ein, die mit dem Stillen unvereinbar sind. Und Lisa konnte sich schlicht nicht vorstellen, für Monate die einzige Nahrungsquelle ihrer Tochter zu sein.
Dass die Babys meiner drei Bekannten das Fläschchen bekommen, hat also ganz unterschiedliche Gründe. Doch eine Erfahrung teilen sie alle: Man kann heute nicht nicht stillen, ohne von anderen Müttern schräg angeguckt zu werden.
Ob in der Krabbelgruppe oder im Eiscafé: Wer statt der Brust das Fläschchen auspackt, erntet missbilligende Blicke und bekommt immer wieder dieselbe Frage zu hören: "Was, du stillst nicht? Aber warum denn nicht?"
Zeitgeist Stillen
Rückblick: In den 60er- und 70er-Jahren war das gesellschaftliche Klima genau umgekehrt. Man hielt Flaschenmilch nicht nur für gesünder, sondern auch für praktischer als Muttermilch. Wer trotzdem stillen wollte, musste einen starken Willen haben. In den 80er-Jahren war dann plötzlich die "sanfte Geburt" ein großes Thema, und im Zuge dieser Wiederentdeckung der Natürlichkeit kam auch das Stillen in Mode.
In den neu eingerichteten Geburtsvorbereitungskursen lernten Frauen nun erstmals, was heute jede Schwangere zu hören bekommt: dass Muttermilch die beste Ernährung für Menschenbabys ist, und dass Stillen nicht nur fürs Kind große gesundheitliche Vorteile hat, sondern auch für die Mutter.
Es folgte eine kurze Zeitspanne, in der Brust- und Flaschenernährung gleichberechtigt waren: Manche Mütter stillten eben, andere gaben die Flasche – und den wenigsten kam es in den Sinn, über ihre Entscheidung groß zu diskutieren.
In den 90er-Jahren begann dann die Stillförderung in großem Stil. Nachdem immer mehr wissenschaftliche Untersuchungen den Wert des Stillens belegt hatten, forderte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1992, dass es die Aufgabe eines jeden Staates sei, sich für "den Schutz, die Förderung und die Unterstützung des Stillens" einzusetzen. In der Folge entstand 1994 in Deutschland die "Nationale Stillkommission", die im Auftrag der Bundesregierung dazu beitragen sollte, dass Stillen die normale Ernährung für Säuglinge wird. An sich keine schlechte Idee – doch irgendwie ist im Zuge dieser Stillförderungskampagnen die Waagschale gekippt. Plötzlich galt Muttermilch nicht mehr nur die wünschenswerte Form der Babyernährung, sondern als die einzig akzeptable.
Müttermobbing der übelsten Sorte
Was daraus für viele freiwillige oder unfreiwillige Fläschchenmamas folgt, ist Müttermobbing der übelsten Sorte. "Mich hat mal eine militante Stillmutter gefragt, ob ich nachts eigentlich ruhig schlafen könne, wenn ich meinem Kind tagsüber diese Giftbrühe verfüttere!", erzählt mir Emma. Und Tatjana bekam immer wieder zu hören, wer bei Stillproblemen abstille, habe sich eben nicht richtig Mühe gegeben. "Jede Frau kann stillen!", sagt sie verbittert. "Wenn ich diesen Satz schon höre! Mag ja sein, dass das theoretisch möglich ist, aber ich hatte keine Kraft mehr zum Kämpfen – kann man das nicht einfach so stehen lassen?"
Den schwersten Stand haben heute sicher Frauen wie Lisa, die sich aus freien Stücken gegen das Stillen entscheiden. "Manche Leute geben mir zu verstehen, dass ich doch auf ein Kind hätte verzichten können", sagt sie. "Wenn ich schon nicht bereit bin, diese erste Mutterpflicht zu erfüllen."
Entscheidungen respektieren
Zur Erinnerung: Wir schreiben das Jahr 2016. Wir leben in einer Zeit, in der Frauen zum Glück das Recht haben, über ihren eigenen Körper zu bestimmen. Und dann beschimpfen erwachsene Frauen tatsächlich andere Mütter, weil sie es wagen, ihren Babys eine andere Milch zu geben? Haben wir sie eigentlich noch alle?
Als eine Mutter, die ihre beiden Töchter gern und lange gestillt hat, finde ich: Wir müssen endlich aufhören, uns gegenseitig das Leben schwer zu machen! Es ist nämlich nicht die Brust oder die Flasche, die uns zu guten Müttern macht. Sondern die Fähigkeit, unseren Kindern, aber auch einander, mit Respekt zu begegnen.
