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Besondere Eltern Mutter – und geistig behindert

Besondere Eltern: Mutter mit Tochter an der Hand
© ellisia / Adobe Stock
Darf eine Frau, deren Intelligenz nicht ausreicht, um für sich zu sorgen, ein Kind aufziehen? Ja!, sagt die gesetzgebende Instanz. Ja, findet auch Mareike Nolte, 26. Hilfe bekommt sie im Familienhaus der Kieler Marie-Christian-Heime, wo man sich seit 20 Jahren um geistig behinderte Mütter und ihre Kinder kümmert.
Mutter - und geistig behindert
© metinkiyak

Wenn es um sie selbst geht, ist Mareike Nolte eher wortkarg: 26 Jahre alt, sechs Geschwister, auf die Sonderschule gegangen, oft gehänselt worden. Nach der Schule ist sie in ein Wohnheim gezogen und hat in einem beschützenden Betrieb gearbeitet, einer Bäckerei. Fertig.

"Sie darf jetzt auch schon Karottenbrei"

Aber wenn es um ihre vier Monate alte Tochter Lisa geht, dann sprudelt es nur so aus ihr heraus: "Heute Nacht ist sie nur einmal aufgewacht, vier Stunden hat sie am Stück geschlafen. Wenn ich nachts an ihr Bett komme, dann grinst sie mich gleich an! Sie kann sich schon fast allein auf den Bauch drehen. Und da unten im Mund, da kann ich fühlen, dass der erste Zahn kommt. Sie darf jetzt auch schon Karottenbrei!" Dabei strahlen Mareikes Augen, und sie kitzelt ihre Tochter mit dem Zeigefinger unterm Arm, bis die glucksend lacht.

Auf solch eine Idylle war noch vor fünf Monaten kaum zu hoffen. Mareike Nolte hatte nichts von ihrer Schwangerschaft bemerkt. Als auffiel, dass ihre Regel schon einige Zeit ausgeblieben war, war es bis zum Entbindungstermin nicht mehr weit.

"Darf ich sie behalten?"

Aber Mareike Nolte konnte sich nicht vorstellen, ein Kind zu haben. Also sollte das Baby gleich nach der Geburt zu Pflegeeltern kommen. Doch als Mareike Nolte ihre Tochter zum ersten Mal im Arm hielt, wollte sie sie nicht hergeben. Sie erinnert sich: "Aber dann war da die Frage: Darf ich sie behalten?" Darauf wusste zunächst niemand eine Antwort, deshalb wurden Mutter und Tochter erst einmal getrennt: "Lisa kam in die Kinderklinik, sie wollten gucken, ob sie eine Behinderung hat. Ich bin jeden Morgen um sieben Uhr da gewesen. Dann habe ich ihr das erste Fläschchen gegeben und bin den ganzen Tag geblieben. Als Lisa aus dem Krankenhaus durfte, ist sie erst mal zu meiner Mama gekommen."

Währenddessen wurde ein Platz gesucht, wo Mareike Nolte zusammen mit ihrer Tochter würde leben können. Zwar gab es auch in Hildesheim ein Mutter-Kind-Heim, aber dort hätte Mareike Nolte nicht so viel Hilfe bekommen, wie sie braucht: "Da gab es keine Nachtbereitschaft. Darum bin ich jetzt hier."

Jede Mutter bekommt so viel Unterstützung, wie sie benötigt

"Hier", das ist das Familienhaus der Marie-Christian-Heime in Kiel. Neun Mütter und neun Kinder leben dort, jede hat anderthalb Zimmer für sich und ihr Kind. Küche und Bad teilen sie sich mit jeweils zwei anderen Müttern. Tag und Nacht sind immer mindestens zwei Fachkräfte im Einsatz, Sozialpädagog:innen, Heilpädagog:innen, Kinderkrankenschwestern. Auf diese Weise bekommt jede Mutter so viel Unterstützung, wie sie benötigt, sei es in der Babypflege, im Alltag oder beim Umgang mit Behörden.

Manche Mütter kochen am Wochenende auch selbst

Der Tagesablauf ist klar geregelt: Für Frühstück und Abendbrot kaufen die Mütter selbst ein und bereiten die Mahlzeiten auch zu, das warme Mittagessen wird von einer Hauswirtschaftsleiter:in gekocht. Manche Mütter kochen am Wochenende auch selbst. Putzen und Aufräumen steht auf dem Wochenplan, der in Mareike Noltes Zimmer hängt, dazu Krankengymnastik für Lisa, aber auch einmal in der Woche ein Beratungsgespräch und eine "Mutter-Kind-Stunde".

Keiner hatte ihr gezeigt, wie sie ein Fläschchen zubereitet

Mareike Nolte erinnert sich an ihre ersten Tage im Familienhaus: "Am Anfang wollte Lisa nur bei mir bleiben und auf keinen anderen Arm." Ein gutes Zeichen für die Betreuer:innen: Mutter und Kind haben schon in den ersten vier Wochen eine intensive Bindung aufgebaut. Dabei konnte Mareike Nolte anfangs ihr Kind nicht selbst wickeln, kein Fläschchen zubereiten. Weder das Pflegepersonal im Krankenhaus noch ihre Mutter zu Hause hatten es ihr zugetraut – und deshalb auch nicht gezeigt. Das wird schnell anders, denn Mareike Nolte ist hoch motiviert.

Sie schmust hingebungsvoll mit der kleinen Lisa

Wer sie heute, drei Monate später, im Umgang mit Lisa beobachtet, sieht ein heiteres, entspanntes Baby und eine einfühlsame, sehr geduldige Mutter. Sie schmust hingebungsvoll mit Lisa, hantiert routiniert mit Windeln, Feuchttüchern und Fläschchen, nimmt sich Zeit zum Spielen. Dabei achtet sie darauf, Lisa oft von der linken Seite anzusprechen, wie die Krankengymnast:in ihr geraten hat. Denn dorthin dreht Lisa den Kopf noch nicht so gern. Überhaupt redet Mareike viel mit ihrer Tochter, aber auch ihre leisen Signale entgehen ihr nicht. So schreit Lisa fast nie, auch nicht gleich, wenn sie Hunger hat. Wie erkennt man, dass sie ein Fläschchen möchte? "Dann macht sie so", sagt Mareike Nolte, spitzt die Lippen und schmatzt.

Mareike holt sich Hilfe, wenn sie sie braucht

Mareikes großes Plus: Sie merkt selbst sehr gut, was sie allein tun kann und wann sie Hilfe braucht. Und sie holt sie sich auch: Wenn sie Lisa baden will, dann bittet sie eine Betreuungskraft, mit dabei zu sein. Und als Lisa vor Kurzem einen Infekt hatte und nachts nicht aufhörte zu schreien, hat sie sich an die Nachtbereitschaft gewandt. Da sie nicht rechnen und nur einzelne Wörter lesen oder schreiben kann, kommt sie auch beim Füttern an ihre Grenzen: Wie kann sie dokumentieren, ob Lisa genug getrunken hat? Sie hat ihre eigene Lösung gefunden: Nach jedem Fläschchen schreibt sie in ein kleines Heft, wie viel Milch in der Flasche war und wie viel Lisa übrig gelassen hat. Das sieht dann etwa so auch: "200 – 40 = ". Ausrechnen kann sie das Ergebnis nicht. Aber deshalb jedes Mal jemanden fragen? Nein. Stattdessen hat sie sich eine Liste mit allen vorkommenden Ergebnissen schreiben lassen, von "200 - 190 = 10" bis "200 – 10 = 190". Dort liest sie dann das passende Ergebnis ab und trägt es für das aktuelle Fläschchen ein.

Zeigen, dass ein Baby auch Freude bedeutet

Ein Höhepunkt der Woche ist die "Mutter-Kind-Stunde" im Frühförderbereich. Dazu setzt sich die Betreuer:in Karla Brocks mit Mareike Nolte auf den Boden neben die Krabbeldecke, Lisa darf strampeln und Spielzeug erkunden. "Manchen Müttern müssen wir helfen, eine Bindung zum Kind aufzubauen", sagt Karla Brocks. "Wir versuchen, ihnen in entspannter Atmosphäre zu zeigen, dass das Baby nicht nur Stress, sondern auch Freude bedeutet." Bei Mareike Nolte ist das nicht nötig. Die beiden Frauen freuen sich gemeinsam über Lisas Fortschritte, Karla Brocks gibt nur kleine Tipps: "Halt ihr die Rassel so hin, dass sie mit beiden Händen danach greift!" Oder, als Lisa sich auf dem Arm ihrer Mutter strampelnd windet: "Was sagt uns das?" Mareike Nolte: "Dass sie runter will." - "Genau. Dann lass sie runter!"

Der Frühförderbereich liegt direkt gegenüber dem Familienhaus. Die Mütter können ihr Kind jederzeit bringen, sie werden aber auch eng in die Arbeit mit eingebunden. So lernen sie am Modell der Erzieher:innen, wie man gut mit Kindern umgeht. Sollten Mutter und Kind über den dritten Geburtstag hinaus bleiben, wird das Kind in einem Kindergarten des Stadtteils angemeldet, damit es auch außerhalb des Heimes Erfahrungen sammeln kann.

Lisa soll später wissen, wer ihr Vater ist

Wer Lisas Vater ist, weiß noch niemand. Zwei Männer kommen infrage, erzählt Mareike Nolte freimütig, beides Mitbewohner in dem Heim in Hannover, wo sie bis zu Lisas Geburt lebte. Sie weiß, dass ein Test Klarheit bringen kann, und will ihn auch machen lassen: "Wenn Lisa später fragt, wer ihr Vater ist, dann soll sie es wissen." Überhaupt macht sie sich viele Gedanken über ihre Zukunft und über die ihrer Tochter. Das ist ganz im Sinne des Heimkonzepts. Möglichst große Selbstständigkeit ist das Ziel.

Zukunftspläne: zurück nach Hannover

Im Durchschnitt bleiben die Mütter etwa zwei Jahre. In dieser Zeit stellt sich heraus, wie viel Betreuung Mutter und Kind brauchen. Natürlich träumen die meisten von einem eigenen Haushalt. Auch Mareike Nolte: "Wenn Lisa größer ist, möchte ich wieder nach Hannover zurück – am liebsten möchte ich dann mit ihr allein in einer betreuten Wohnung leben." Dass Lisa und sie auf Dauer Unterstützung brauchen werden, weiß sie. Aber wenn Heim und Jugendamt grünes Licht geben, darf sie irgendwann mit Lisa in den "Trainingsbereich" des Heims ziehen, in eine abgeschlossene Wohnung, ohne ständige Überwachung. Dort können Mütter in der Phase vor dem Auszug üben, mit weniger Betreuung zurechtzukommen. Mareike Nolte ist zuversichtlich: "Wir arbeiten daran, dass ich das schaffe. Mit Lisa allein zum Arzt gehen kann ich schon!"

Interview: "Müssen denn solche Menschen auch noch Kinder kriegen?"

Fünf Fragen an Ulrike Marschall, die seit 20 Jahren den Bereich "Mutter, Kind & Familie" der Marie-Christian-Heime leitet, in dem Mütter mit geistiger Behinderung ihre Kinder selbst großziehen.

Sie hören auch heute noch die Frage: "Müssen denn solche Menschen auch noch Kinder kriegen?" Was antworten Sie dann?
Ulrike Marschall: Eigentlich bin ich immer erst mal sprachlos über eine solche Frage. Niemand darf und kann entscheiden, wer Kinder bekommt und wer nicht. In den letzten 20 Jahren habe ich hier sehr viele liebevolle Mütter und tolle Kinder kennengelernt. Eine Minderung der Intelligenz bedeutet nicht, dass Bindungsfähigkeit und Gefühle beeinträchtigt sind.

Aber es geht doch auch um die Kinder - wären die bei Pflegeeltern nicht besser aufgehoben?
Wir sind der festen Überzeugung, dass Mutter und Kind zusammengehören, und die Gesetzgeber:in ist das auch. Deshalb verfolgen wir zwei Ziele. Erstens: Jede Mutter soll die Unterstützung bekommen, die sie braucht, um ihr Kind selbstständig aufzuziehen. Zweitens: Mutter und Kind sollen so selbstbestimmt wie möglich leben.

Wo liegen die größten Schwierigkeiten?
Wir haben früher gedacht, dass das Säuglingsalter die kritischste Phase ist. Aber das stimmt nicht. In den ersten zwei Jahren brauchen die Kinder bedingungslose Liebe und Wärme, und die können Mütter mit geistiger Behinderung genauso gut, manchmal sogar besser geben. Schwierig ist, dass die Kinder den Müttern schnell intellektuell überlegen sind. Dann brauchen auch die Kinder maßgeschneiderte Hilfen: Ganztagsbetreuung oder zumindest Hausaufgabenhilfe.

Ist geistige Behinderung erblich?
Nach unserer Erfahrung: Nein. Es gibt so viele verschiedene Ursachen, die nichts mit Vererbung zu tun haben: Misshandlung, schwere Vernachlässigung, Sauerstoffmangel bei der Geburt, Unfälle ... Aber auch Mütter, die mit einer geistigen Behinderung zur Welt gekommen sind, scheinen diese nicht automatisch an ihr Kind zu vererben. Erst vor Kurzem haben zwei Kinder, die hier geboren wurden, Realschulempfehlungen bekommen.

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