Artikelinhalt
- 1. Muss jedes Kind krabbeln?
- 2. Wie sieht normale Sprachentwicklung aus?
- 3. Haben sprachliche und motorische Entwicklung etwas miteinander zu tun?
- 4. Sade! Weshalb tun sich manche Kinder mit der Aussprache so schwer?
- 5. Warum bewegt sich mein Baby wie ein Seehund?
- 6. Mit vier Monaten sitzen - kann ein Baby das?
- 7. Wann können sich Laufanfänger auch rückwärts bewegen?
- 8. Hüpfen, springen, Dreirad fahren - sollten Zweijährige das alles schon können?
- 9. Unser Nachbarskind macht viele Entwicklungsschritte besonders früh - ist es schlauer als unseres?
- 10. In der Krabbelgruppe sind alle anderen Kinder motorisch fitter. Kann ein PEKiP-Kurs helfen?
- 11. Einen Schnuller in den Mund zu stecken sei eine enorme Koordinationsleistung, heißt es. Wieso?
- 12. Wann ist es Zeit für den Löffel?
- 13. Können Einjährige schon aufs Töpfchen?
- 14. Die Tochter von Freunden wollte von sich aus die Toilette benutzen, unser Kind zeigt keinen Antrieb – woran liegt das?
- 15. Immer nur Nein – ist das normal?
- 16. Nicht ohne Mama oder Papa - ist mein Baby ein Angsthase?
- 17. Wann weiß Marie, dass sie Marie ist?
- 18. Brauchen Babys schon Freunde?
- 19. Gibt es einen inneren Kompass für Entwicklungsschritte?
- 20. Warum hat man heute den Eindruck, dass kaum noch ein Kind normal ist?
Jedes Kind entwickelt sich in seinem eigenen Tempo. Es gibt keinen allgemeingültigen Leitfaden, was ein Kind in welchem Alter unbedingt schon können muss. Kinder in Europa entwickeln sich anders als Kinder in Afrika. Die einen laufen früher, die anderen sprechen später. Manche sind mutiger, andere wiederum ängstlicher. Das Nachbarskind ist schon windelfrei, Ihr Kind macht keine Anstalten, sich aufs Töpfchen zu setzen. So unterschiedlich wie wir Erwachsenen, sind auch unsere Kinder. Da wir aber wissen, welche Fragen Eltern in Bezug auf die Entwicklung ihres Kindes haben, finden Sie hier jede Menge Antworten und Informationen rund ums Thema Entwicklung.
1. Muss jedes Kind krabbeln?
Durchaus nicht - viele Wege führen nach Rom beziehungsweise ins Wohnzimmer, wo die superspannende MP3-Player-Dockingstation lockt. Mit etwa einem halben Jahr erweitern Babys ihren Aktionsradius, sie rutschen auf dem Bauch, vorwärts oder rückwärts, hopsen auf dem Po oder rollen über den Teppich. Allen Fortbewegungsarten gemeinsam ist: Die Kinder werden schneller und schneller, sodass Mama und Papa sich beeilen müssen mit ihrer Dockingstationrettungsaktion.
2. Wie sieht normale Sprachentwicklung aus?
Schon ganz Kleine produzieren Sprache - auch wenn es noch nicht danach klingt: Erst wird gegurrt (ab einem Monat), dann gebrabbelt (ab drei bis fünf Monaten), es werden Silben verdoppelt (ab sieben bis acht Monaten) und Kauderwelsch geredet (Sprachexperten sagen: Jargoning), bevor dann um den ersten Geburtstag herum, manchmal aber auch erst Monate später, das erste Wort fällt - "Mama" ist dabei in der Statistik ganz weit vorne. Aber schon vorher, im Kauderwelschstadium mit zehn bis zwölf Monaten, hat das Baby einen passiven Wortschatz von ungefähr 60 Wörtern, die es versteht und wiedererkennt.
3. Haben sprachliche und motorische Entwicklung etwas miteinander zu tun?
Eltern machen die Beobachtung, dass Kinder, die früh laufen, später sprechen und umgekehrt. Dieser Zusammenhang ist wissenschaftlich nicht belegt - ein anderer aber schon: Wer sich viel bewegt, tut sich mit dem Sprechenlernen leichter. Laufradfahrer können vielleicht nicht früher Zweiwortsätze sagen, aber zumindest verstehen sie die Bedeutung des Begriffs "Fahrtwind" besser. Jede Form der Bewegung unterstützt Spracherwerb, weil Bewegung Kindern sinnliche Erfahrungen verschafft, die sich als Worte besonders gut im Kopf festsetzen.
4. Sade! Weshalb tun sich manche Kinder mit der Aussprache so schwer?
T, s, sch, k sind besonders schwierig zu lernen, noch viele Vierjährige haben Schwierigkeiten damit. Aber auch andere Fehler gehören zur Sprachentwicklung und geben sich in den allermeisten Fällen von allein. "Ein Kind, das ,Taffee holen‘ sagt statt ,Kaffee holen‘, muss nicht therapiert werden", sagt der Kinderarzt Herbert Renz-Polster. "Schließlich sagt kein Erwachsener ,Taffee holen‘ – was beweist, dass es sich tatsächlich um ein vorübergehendes Sprachphänomen handelt." Eine CD, mit der Üben sich nicht wie Üben anfühlt: "Zungenbrecher und Co", Sprach- und Liederspiele zum Mitmachen, terzio, 9,95, ab drei Jahre.
5. Warum bewegt sich mein Baby wie ein Seehund?
Sie erinnern an kleine Heuler – Köpfchen neugierig nach oben gereckt, den Oberkörper in Bauchlage auf Unterarme und Hände gestützt, Ellenbogen gestreckt, so lässt sich die Welt von der Krabbeldecke aus gut erkunden. Mit drei, vier Monaten nehmen Babys, wenn sie ausgeschlafen und aufnahmebereit sind, gern diese Haltung ein. Das ist nicht nur ein wichtiger motorischer Entwicklungsschritt – es zeigt auch, dass sie ihre visuelle Aufmerksamkeit schon sehr gut steuern können, sie reagieren nicht mehr nur auf Reize, sie suchen sie.
6. Mit vier Monaten sitzen - kann ein Baby das?
Nur wenn es in Kamerun aufwächst. In einer Langzeitstudie untersuchte das "Niedersächsische Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung" der Universität Osnabrück gemeinsam mit anderen Forschern hier und in Afrika Unterschiede zwischen afrikanischen und europäischen Babys. Ein Ergebnis: Babys in Kamerun sitzen schon mit vier Monaten ausdauernd und sicher, bei uns können sie das ab ungefähr dem sechsten Monat. Als Grund machten die Wissenschaftler die alltäglichen Herausforderungen aus: Afrikanische Babys sitzen fast ausschließlich im Tragetuch, das festigt ihre Rückenmuskulatur. Für Kinder, die - wie unsere - auch auf der Krabbeldecke, in der Wippe oder dem Autositz liegen, wäre so frühes Sitzen tatsächlich ungesund, weil ihre Muskeln das Gewicht noch nicht tragen. Im Alter von zwei Jahren haben sich die Unterschiede zwischen kleinen Afrikanern und Europäern dann angeglichen, alle sitzen sicher und können gleich gut sprechen - damit fangen Babys in Kamerun später an.
7. Wann können sich Laufanfänger auch rückwärts bewegen?
Das haben sie schnell drauf: Nach den ersten selbstständigen Schritten zwischen dem zwölften und 15. Monat (das ist die statistische Mitte - Ausreißer nach oben, 20 Monate, und unten, neun Monate, sind normal) haben die Beginners bald einen so sicheren Stand, dass sie in die Knie gehen und sich wieder aufrichten können. Etwas später versuchen sie auch Rückwärtsschritte. Dass sie dabei ab und zu auf dem Windelpo landen, macht gar nichts.
8. Hüpfen, springen, Dreirad fahren - sollten Zweijährige das alles schon können?
Sie müssen nicht, sie wollen! Zwischen dem zweiten und dem dritten Geburtstag bleibt es spannend, beinahe täglich führen Kinder jetzt neue Kunststücke vor. Sofaspringer, Schlittenbergbesteiger und Laufradchampions sind stolz darauf, ihren Körper immer besser zu beherrschen. Und sie zeigen es. Dass das eine mit 23 Monaten bereits von der zweiten Treppenstufe springt, das andere sehr vorsichtig über den Baumstamm balanciert, ist dabei egal: Für alle Kinder ist Bewegung pure Lebensfreude.
9. Unser Nachbarskind macht viele Entwicklungsschritte besonders früh - ist es schlauer als unseres?
Eine zuverlässige Aussage über Begabungen, Talente, Intelligenz ist erst ab dem frühen Schulalter möglich. Nur weil ein Baby schon mit einem halben Jahr Po-Pirouetten dreht, muss es keine Primaballerina werden. Ausnahme: Sehr frühes Sprechen deutet auf spätere gute Intelligenzleistungen hin - das kleine Einmaleins auswendig lernen müssen kleine Frühsprecher später aber auch!
10. In der Krabbelgruppe sind alle anderen Kinder motorisch fitter. Kann ein PEKiP-Kurs helfen?
PEKiP macht vielen Babys Spaß, schon deshalb, weil es intensive Beschäftigungszeit mit den Eltern ist. Es spricht also nichts gegen einen Kurs. Aber: Entwicklung kann und muss nicht forciert werden. Es reicht völlig aus, gute Bedingungen dafür zu schaffen. Ein Kind, das genügend Bewegungsmöglichkeiten hat, nicht ständig in einer Wippe liegt etwa, trainiert seine Motorik aus eigenem Antrieb. In welchem Tempo, entscheidet es selbst: Manche ziehen sich schon mit acht Monaten an Möbeln hoch, andere laufen erst mit 18 Monaten frei. Babys lassen sich nicht hetzen. Ob ihre Entwicklung gesund und altersgemäß ist, zeigen die engmaschigen Vorsorgeuntersuchungen: Hat ein Kind Probleme, die seine Motorik behindern, muskuläre beispielsweise, dann wird das dem Kinderarzt auffallen, und das Kind kann gezielt physiotherapeutisch behandelt werden.
11. Einen Schnuller in den Mund zu stecken sei eine enorme Koordinationsleistung, heißt es. Wieso?
Weil es so einfach aussieht und doch so viele verschiedene Fähigkeiten voraussetzt. Die Vorbereitungen laufen früh an: Im vierten Schwangerschaftsmonat nuckeln Ungeborene an ihren Fingerchen, sie beherrschen bereits die Hand-Mund- Koordination. Wenn Säuglinge eine Hand zum Gesicht führen, sie betrachten, dabei die Finger bewegen, klappt die Hand- Augen-Koordination. Ungefähr ab dem dritten Monat kann ein Kind seine Hände zusammenbringen, es beherrscht die Hand-Hand-Koordination. Ab dem fünften Monat nähert es sich gezielt mit den Händen einem Gegenstand und packt zu – jetzt findet auch der Schnuller seinen Weg in den Mund. Ein Höhepunkt in der Entwicklung der Handmotorik ist der Pinzettengriff: Mit neun bis zehn Monaten lernt das Kind, Dinge mit der Fingerkuppe des Daumens und dem Zeigefinger aufzuheben. Jetzt fehlt nur noch das Loslassen. Während Kinder am Ende des ersten Lebensjahres schon geschickt sind im Greifen, macht es ihnen Mühe, etwas wieder aus der Hand zu entlassen. Am besten schaffen sie es, wenn sie Hand und Arme heftig schütteln. Diese Schleudertaktik sieht aus wie Vandalismus, ist aber eine kluge Strategie, den Reflex des Festhaltens zu überwinden.
12. Wann ist es Zeit für den Löffel?
Vier Monate Muttermilch oder Fläschchen, dann allmählich mit kleinen Portionen von allem möglichen Essbaren beginnen – das ist nach aktuellen Erkenntnissen der Babyernährungsforschung das Beste fürs Kind. Man weiß heute, dass frühes Zufüttern möglichst abwechslungsreicher Kost Allergien vorbeugen kann. Zunächst wird das Baby an der Karotte, der Brotkruste, dem Apfelschnitz nur lutschen und saugen (bitte immer unter Aufsicht – Erstickungsgefahr!). Etwa mit einem halben Jahr hat es dann das Know-how, das es braucht, um vom Löffel zu essen: Es kann den Mund bewusst verschließen, die Zunge hinten lassen, den Brei schlucken.
13. Können Einjährige schon aufs Töpfchen?
Hätten frühere Elterngenerationen gewusst, was heute bekannt ist, wären vielen Babys lange Topfsitzungen und rote Ringe am Po erspart geblieben: Die vollständige Kontrolle über Blase und Darm gelingt Kindern erst mit 24 bis 48 Monaten. Auch eine Erziehung, die auf Windeln völlig verzichtet und auf Kontrolle des Kindes setzt (www.topffit.de), beschleunigt das natürliche Sauberwerden nicht.
14. Die Tochter von Freunden wollte von sich aus die Toilette benutzen, unser Kind zeigt keinen Antrieb – woran liegt das?
Die Eigeninitiative hat viel mit Vorbildern zu tun: Kinder mit älteren Geschwistern schauen sich bei den "Großen" ab, was auf der Toilette passiert. Eltern, die ihr Kind nicht vor dem Bad warten lassen, helfen ihm beim Sauberwerden. Dass er so weit ist, gibt der Noch-Windelträger selber zu verstehen: Er wehrt sich gegen das dicke Polster am Po, macht nicht heimlich in die Windel, sondern gibt mimisch und sprachlich zu verstehen, dass er "muss". Das ist dann der richtige Zeitpunkt, Topf oder Toilettensitz bereitzustellen.
15. Immer nur Nein – ist das normal?
"Trotzreaktionen können für Eltern sehr beeindruckend ausfallen", sagt der bekannte Schweizer Kinderarzt und Entwicklungsexperte Remo Largo. Wer sein Zweijähriges brüllend und trampelnd vor einem Spielzeugregal erlebt hat, weiß, was er meint. Den eigenen Willen zu entdecken und auszudrücken ist für ein Zweijähriges ein enorm wichtiger Entwicklungsschritt. Der Frust, dass etwas, das es sich vorgenommen hat – Playmo in den Einkaufswagen werfen –, nicht klappt, kann in dieser Phase so groß sein, dass er mit allen Mitteln – Schreien, Strampeln – herausmuss. Was machen kluge Eltern? Wutzwerge sich austoben lassen, bei ihnen bleiben, nicht nachgeben oder eingreifen, einfach abwarten, bis der Zorn sich legt. Eine echte Meditationsübung!
16. Nicht ohne Mama oder Papa - ist mein Baby ein Angsthase?
Nein, es ist schlau! Frühestens mit fünf Monaten, sehr oft um den achten Monat herum, manchmal aber auch erst mit drei Jahren, verstehen Kinder, dass es einen Unterschied gibt zwischen Vertrauten und Fremden. Denen gegenüber verhalten sie sich dann – meistens nur für eine kurze Zeitspanne – ablehnend oder ängstlich. Das ist eine Typfrage. Aber auch die Erfahrungen, die ein Kind in seinem ersten Lebensjahr macht, beeinflussen, wie stark es fremdelt. Wer früh viele unterschiedliche Menschen kennenlernt, wird Unbekannten gegenüber eher aufgeschlossen sein als ein Baby, das hauptsächlich mit Mutter oder Vater zusammen ist. Aber auch routinierte Krabbelgruppenbesucher können von einem Tag auf den anderen den Kontakt verweigern, die Nase ganz tief in Mamas Schulter vergraben, hinter Papas Beinen auf Tauchstation gehen. Spätestens nach dem dritten Lebensjahr nehmen Fremdeln und Trennungsangst immer mehr ab. Bis dahin sollte das Baby behutsam mit neuen Personen und Situationen bekannt gemacht werden. Auch ein Fremdelkind kann Vertrauen aufbauen, es braucht aber Zeit dafür.
17. Wann weiß Marie, dass sie Marie ist?
Es gibt einen einfachen Versuch, der das zeigt, den sogenannten Rouge-Test: Dem Kind wird - möglichst unbemerkt - ein wenig rote Farbe auf Nase oder Wange getupft. Dann bekommt es sein Spiegelbild zu sehen. Ein Baby, das noch nicht unterscheidet zwischen sich und der Welt, wird der Fleck nicht stören. Ist Marie aber sicher, dass sie Marie ist, wird sie versuchen, den Punkt an ihrer Backe, auf ihrer Nase, am Kinn zu erwischen - sie weiß, er gehört zu ihrem Körper, den sie im Spiegel sieht. Das Ich-Bewusstsein entwickelt sich nicht vor dem 18. Monat.
18. Brauchen Babys schon Freunde?
Alles, was zappelt, Geräusche macht oder Spannendes zu bieten hat, ist interessant, auch der Babykumpel aus der Krabbelgruppe. Freundschaft ist das aber noch nicht, das andere Kind wird nicht als echtes Gegenüber wahrgenommen. Auch mit einem Jahr spielen Kinder nur parallel, wie Entwicklungsforscher es nennen, also nebeneinander, nicht miteinander. Zweijährige beschäftigen sich bereits intensiver miteinander, tauschen Spielzeug, bringen sich gegenseitig auf Ideen. Mit drei, vier Jahren gehen Kindergartenkinder Bindungen zu Altersgenossen ein, ziehen ein Kind dem anderen vor, freuen sich aufeinander, vermissen sich, sind beste Freunde. Oder jedenfalls beinahe beste Freunde, denn Freundschaften sind jetzt noch anfällig für Störungen. Zickt die Freundin, stellt der Freund sich als langweilig heraus, wird die Freundschaft gekündigt - und kann am nächsten Kita-Morgen doch wieder ganz dicke sein.
19. Gibt es einen inneren Kompass für Entwicklungsschritte?
Erst sitzen, dann hochziehen, dann laufen. Am Anfang mit der ganzen Hand greifen, danach erst mit spitzen Fingern. Vieles läuft tatsächlich bei allen Kindern in der gleichen Reihenfolge ab. Auch der ungefähre Zeitpunkt für das erste Lächeln oder für die ersten Worte ist in den Genen angelegt. Dabei kommt es aber nicht auf Tage oder Wochen an, jedes Kind hat Spielraum für seine ganz persönlichen Meilensteine. Manche Entwicklungsbesonderheiten sind sogar vererbt: War Papa ein Spätsprecher, plappert Sohnemann möglicherweise auch nicht schon mit zwei wie ein Wasserfall.
20. Warum hat man heute den Eindruck, dass kaum noch ein Kind normal ist?
Anders gefragt: Nehmen Entwicklungsstörungen und gesundheitliche Probleme tatsächlich zu, oder ist der gestiegene Bedarf an Logopädiestunden, Ergotherapien und anderen Fördermaßnahmen für die wachsende Aufgeregtheit verantwortlich? Reden wir unsere Kinder schlecht? "Die Entwicklungsrisiken steigen tatsächlich", sagt Dr. Herbert Renz-Polster, Kinderarzt, Entwicklungsforscher und Buchautor*, "aber nur für eine Minderheit der Kinder. Rund 15 Prozent haben Therapiebedarf – und das sind ausgerechnet die, für die nur selten um Hilfe gebeten wird. Sie leben meist nicht nur in wirtschaftlicher Armut, sondern oft auch in verarmten Beziehungsnetzen." Den allermeisten Kindern dagegen gehe es heute so gut wie noch keiner Generation zuvor: "Sie sind gesund und werden länger leben als alle vor ihnen."
Warum nahm dann im letzten Jahr die Zahl der verordneten Logopädiestunden um zehn Prozent zu, warum war laut AOK jedes vierte Kind in einer Förderbehandlung – wenn die einen nicht hingehen und die anderen sie nicht nötig haben? "Normalität wird heute konstruiert", sagt Renz-Polster. Aus seinen Sprechstunden weiß er, dass viele Eltern meinen, ihr Baby müsse mit einem halben Jahr durchschlafen. "Sechs Monate. Dieser Zeitpunkt kam irgendwie auf und wird seitdem nicht mehr hinterfragt." Studien, die so eine Norm belegen würden, gibt es nicht. "Genaue Zeitangaben sind immer problematisch. Der Korridor für eine gesunde Entwicklung ist hier wie in allen anderen Entwicklungsbereichen riesengroß."
Trotzdem gibt es Eltern, die Strichlisten führen und akribisch jedes neue Wort ihres Zweijährigen notieren. 50! Das ist die magische Grenze, die Sprachheiltherapeuten für die altersgemäße Entwicklung um den zweiten Geburtstag herum vorgeben. "Eine Gelddruckmaschine", findet Renz-Polster. Nach langjähriger Unterversorgung sind in den vergangenen Jahren viele neue Sprachpraxen entstanden – dass sie Patientenbedarf haben, leuchtet ein.
Die medizinische Grundversorgung der Kinder in Deutschland ist heute gesichert, stellt Harald Bode fest, langjähriger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin. Auch deshalb, mutmaßt der Kinderarzt am Universitätsklinikum Ulm, machen Eltern sich Sorgen um die Fortschritte ihrer Kinder, sehen sich sozusagen nach anderen Optimierungsmöglichkeiten um. Die gesamte Bandbreite der kindlichen Entwicklung zu akzeptieren falle Eltern zunehmend schwer. Das Beste für sein Kind zu wollen sei sicher ein starkes Motiv. Wer heute Mutter wird oder Vater, weiß nicht, was das Leben von seinem Kind in zehn, 15, 20 Jahren fordern wird, er weiß aber, dass die Anforderungen nicht geringer werden - dafür will er es gerüstet wissen. Eine verständliche Überlegung, die aber viel Druck auf die Familien ausübt und Lebensfreude kosten kann. "Als normal gilt heute, was vorne ist", sagt Herbert Renz- Polster. "Eltern orientieren sich an den Schnellentwicklern auf einem Gebiet. Dass die in einem anderen Bereich womöglich sehr viel länger brauchen, übersehen sie. Dabei ist die Spannbreite der zeitlichen Abläufe tatsächlich die einzige Normalität in der kindlichen Entwicklung."
* Herbert Renz-Polster: "Kinder verstehen. Born to be wild. Wie die Evolution unsere Kinder prägt", Kösel, 19,95 Euro