Säuglinge können noch nicht warten
Im ersten halben Jahr sei die Sache glasklar, sagt Dr. Jörn Borke, der die Babysprechstunde der Universität Osnabrück leitet: "Ein so kleines Baby kann noch gar nicht gezielt beschließen: Jetzt weine ich mal eine Runde. Es schreit, weil es etwas braucht. Und für seine Entwicklung ist es am besten, wenn man darauf stets prompt und angemessen reagiert." Prompt und angemessen, das heißt: Wenn das Baby zu weinen beginnt, geht man zügig zu ihm. "Rennen muss man nicht", meint Borke. "Wichtig fürs Baby ist, dass seine Eltern möglichst entspannt zu ihm kommen und ihm zeigen: Ich habe dich gehört, und deshalb bin ich jetzt da."
Die Entdeckung der Geduld
Gegen Ende des ersten Lebensjahres machen Babys in ihrer Entwicklung dann einen großen Sprung: Sie lernen nun, dass Mama und Papa auch dann noch existieren, wenn sie sie gerade nicht sehen. Und dass sie sie gezielt rufen können. "Diesen Zusammenhang muss ein Baby verstehen. Erst dann kann es lernen, sich auch mal einen Moment zu gedulden", erklärt Borke. Denn während sich für ein kleines Baby ein unerfülltes Bedürfnis schnell wie eine existenzielle Bedrohung anfühlt, ist das ältere Baby imstande, sein Bedürfnis für einen Augenblick aufzuschieben, wenn es weiß: Mama und Papa geben mir garantiert, was ich brauche. Wenn nicht jetzt sofort, dann eben gleich. Trotzdem rät Borke eher davon ab, Babys im zweiten Lebenshalbjahr sozusagen aus pädagogischen Gründen warten zu lassen. "Auch ein größeres Baby weint nicht einfach so, sondern weil es etwas braucht", betont Borke. "Und es ist gut, wenn Eltern deshalb auch weiterhin schnell reagieren."
Und wenn der Alltag dazwischenkommt?
Natürlich gibt es Situationen, in denen das alles nicht lehrbuchmäßig funktioniert. Zum Beispiel, weil das Baby schreit, während der zweijährige Bruder gerade auf dem Wickeltisch liegt. "Klar ist es für das Baby nicht schön, wenn es weint und es kommt erst mal keiner", sagt Borke. "Aber so ist das Leben. Und auch ein kleines Baby trägt keinen Schaden davon, wenn es dann mal warten muss." Borke rät, in solchen Momenten dem Baby zuzurufen: "Ich komm gleich, mein Schatz!" Denn auch wenn es dafür keinen klaren wissenschaftlichen Beleg gibt, ist Borke überzeugt: Babys spüren, ob ihre Eltern sie ohne besonderen Grund warten lassen. Oder ob sie sich gerade am liebsten zerreißen würden, um gleichzeitig überall da zu sein, wo sie gebraucht werden.
Das hilft beim Warten
Und dann gibt es noch die Momente, in denen Eltern einfach ein bisschen Zeit brauchen - für sich, etwa beim Duschen. Oder um dem Baby das zu geben, was es braucht. Bestes Beispiel: Fläschchen machen. Routinierte Eltern schaffen das zwar in wenigen Minuten. Aber so lange muss das hungrige Baby warten, und zwar egal, ob es drei oder neun Monate alt ist. Ein Problem? Nein, findet Borke: "Dann nimmt man das Kleine eben nahe zu sich und erklärt ihm Schritt für Schritt, was jetzt passiert." Und stellt das Körbchen neben die Dusche, bevor man das Wasser aufdreht. Dann kann man zur Not mit dem weinenden Baby sprechen. Denn: "Auch wenn ein Baby die Erklärungen vielleicht noch nicht versteht, spürt es, dass seine Eltern sich kümmern."
Warum Wünsche und Bedürfniss nicht das gleiche sind
Um Wartezeiten richtig gut wegstecken zu können, müssen kleine Kinder allerdings nicht nur kapiert haben, dass Dinge manchmal nicht sofort, sondern nacheinander passieren. Sie müssen auch mit dem Frust umgehen können, den das Abwarten nun einmal mit sich bringt. Und das lernen Kinder typischerweise erst im zweiten Lebensjahr.
"In diesem Alter entdecken Kinder, dass sie nicht nur Bedürfnisse, sondern auch Wünsche haben", erklärt Dr. Jörn Borke. "Das heißt, sie verlangen nicht nur nach Dingen, die sie brauchen. Sondern auch nach Dingen, die sie haben wollen." Und genau die Konflikte, die daraus in jeder Familie entstehen, sind aus entwicklungspsychologischer Sicht das optimale Warte- Training. Denn anders als bei den Grundbedürfnissen nach Nahrung oder Nähe, die schnell erfüllt werden sollten, bieten Wünsche die Gelegenheit, das Warten zu üben: "Du möchtest gern Felix besuchen? Heute ist es dafür leider zu spät, aber morgen können wir das gerne machen ..." Durch solche Gespräche lernen Kinder zweierlei: die Enttäuschung, dass etwas nicht sofort nach ihrem Willen geht, auszuhalten. Und sich darauf zu freuen, dass es etwas Schönes dann eben etwas später gibt.
Vom Wert des Wartens
Dass es für die Persönlichkeitsentwicklung wertvoll ist, wenn Kinder warten gelernt haben, belegt eine groß angelegte Langzeitstudie: Kinder, die im Alter von vier Jahren in der Lage waren, 20 Minuten allein in einem Raum mit einem Marshmallow auszuharren, ohne es aufzuessen, entwickelten sich zu Erwachsenen, die sich und ihre Bedürfnisse besser unter Kontrolle hatten und deshalb erfolgreicher waren. "Vermutlich", so Diplompsychologe Borke, "hatten diese Kinder Eltern, die ihnen in der Trotzphase wie freundschaftliche Sparringspartner gegenüberstanden, die ihnen gezeigt haben: Man kann nicht immer gleich kriegen, was man will. Aber Geduld zahlt sich meist aus."
Also bitte dran denken beim nächsten Rumpelstilzchen- Auftritt vor dem Ü-Eier-Regal: Hier findet gerade ein anstrengendes, aber extrem lohnendes Intensivtraining für die Persönlichkeitsentwicklung statt, bei dem sich Eltern und Kind gleichermaßen fortbilden - und zwar in den Disziplinen Frustrationstoleranz, Selbstbeherrschung und vor allem in der Königsdisziplin: Geduld.