Nur Mama kann trösten
Zurückweisung tut weh. Besonders, wenn sie vom eigenen Baby ausgeht. Diese Erfahrung machen viele Väter in den ersten Wochen nach der Geburt: Das Neugeborene guckt sie zwar freundlich an und lässt sich von ihnen auch mal durch die Wohnung tragen. Doch sobald es müde wird, weint oder schreit, kann nur noch eine helfen: Mama! Die Mutter eines solchen Babys zu sein, ist ein 24-Stunden- Job. "Meine kleine Mina ist das glücklichste Baby der Welt, solange sie auf meinem Arm ist", schreibt Nicole, 25, im Internet. "Sobald ich sie nur für einen Moment jemand anderem gebe, beginnt sie herzzerreißend zu schreien. Sie braucht mich einfach für alles: zum Trinken, zum Kuscheln, zum Tragen, zum Einschlafen. Ich nehme sie sogar mit aufs Klo!"

Tendenz zum Mama-Kind ist angeboren
Kann das wirklich sein? Dass ein Baby von Geburt an so auf seine Mutter fixiert ist, dass es sich von niemand anderem beruhigen lässt? Dem widerspricht die moderne Bindungsforschung, nach der es Babys in den ersten Lebensmonaten noch ziemlich egal ist, wer sich um sie kümmert. "Die meisten Babys bis sechs Monate haben die Fähigkeit, Bindungen aufzubauen, noch nicht voll entwickelt", erklärt Richard Bowlby, Präsident des amerikanischen Centre of Child Mental Health. "Deshalb empfinden sie es normalerweise nicht als beunruhigend, wenn jemand anderes als die Mutter für sie sorgt.“ Erst mit der sogenannten Fremdelphase zwischen dem siebten und dem neunten Lebensmonat beginnen laut Bowlby viele Babys, einen Unterschied zwischen vertrauten und fremden Personen zu machen. Wenn sich ein Baby nun aber nicht an diesen Entwicklungsfahrplan hält, muss sich seine Mutter oft Fragen gefallen lassen. So auch Nicole. "Bist du dir sicher, dass nicht in Wirklichkeit du diejenige bist, die nicht loslassen kann?", hakt eine andere Mama in der Forums-Diskussion nach und spricht damit aus, was viele denken: Wenn ein Baby sich nur von der Mutter beruhigen lässt, heißt das vor allem eins: Gluckenalarm! "So ein Blödsinn!", sagt der Kinderarzt Dr. Herbert Renz- Polster. "Natürlich gibt es Babys, die mit der Tendenz zum Mama-Kind geboren werden. Mit ihren Müttern hat das nichts zu tun. Sondern mit ihrem Temperament.“
20 Prozent aller Neugeborenen lieben eine enge Bindung
Jedes Baby bringt seine ganz eigenen Persönlichkeitsmerkmale mit auf die Welt. Dass diese bereits vor der Geburt in seinem Gehirn angelegt sind, hat der US-Psychologe Jerome Kagan bewiesen. Ob ein Baby sich also unkompliziert von Arm zu Arm reichen lässt oder sich an Mamas Pulli festkrallt, ist keine Frage der Erziehung, sondern der Hirnchemie. Kagan und sein Team fanden heraus: Etwa 40 Prozent aller Neugeborenen bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Auf unterschiedliche Betreuungspersonen reagieren sie cool, wie sie auch sonst wenig weinen und schreien. Kein Wunder, dass ihre Eltern sie als "total pflegeleicht" beschreiben! Weitere 40 Prozent der Babys sind anspruchsvoller: Sie wollen lieber bei Mama und Papa sein als bei irgendwem anders. Mit dem Stress einer kurzen Trennung kommen sie trotzdem gut klar.
Und dann gibt es noch jene 20 Prozent aller Neugeborenen, die Kagan "hoch reaktive" Babys nennt. Sie unterscheiden sich in vielem deutlich von ihren Altersgenossen: Sie sind nicht nur besonders wach und aufgeweckt, sondern auch motorisch meist überdurchschnittlich weit entwickelt. Doch auf Stress reagieren sie empfindlich, vor allem auf Trennungen. Ganz typisch für sie ist eine extrem enge Bindung an ihre "primäre Bezugsperson".
Primäre Bezugsperson - meist die Mama
Das muss nicht zwingend die Mutter sein. Unmittelbar nach der Geburt ist ein Baby nämlich tatsächlich noch nicht darauf festgelegt, an wen es sich am engsten bindet. Würde es ab diesem Moment fast ausschließlich der Vater mit Milch und Nähe versorgen, bekäme er den Titel zugesprochen. Doch in den allermeisten Fällen ist es nun mal die Mutter, auf deren Bauch das Baby sich vom Geborenwerden ausruht. An ihrer Brust trinkt es seine Milch, in ihren Armen schläft es ein. Und weil es nach Überzeugung der Bindungsforscher für jedes Kind nur eine primäre Bezugsperson geben kann, wird das eben fast immer sie. Der Vater rückt dann auf den Posten der sekundären Bezugsperson nach. Die natürlich auch eine ganz zentrale Rolle in der Entwicklung spielt. Aber leider eben von hoch reaktiven Babys in den ersten Lebensmonaten nur unter Protest als Mama- Ersatz geduldet wird.
Was macht man da?
Bewährt hat sich eine Doppelstrategie: Zum einen, dem Baby das Bedürfnis nach ganz viel Mama zuzugestehen. Dadurch wird es nicht verwöhnt, sondern tankt die Sicherheit, die es braucht, um sich irgendwann auch woanders geborgen fühlen zu können. Zum anderen aber auch, von Anfang an sanft gegenzusteuern: Kein Baby trägt einen Schaden davon, wenn es eine Stunde in der Woche beim Vater bleibt, während die Mutter in Ruhe zur Rückbildungsgymnastik geht. (Bei Kursen mit Baby kommen Mütter solcher Kinder nämlich nie zum Turnen!) Ja, wahrscheinlich wird es weinen und schreien, wenn die Tür ins Schloss fällt. Aber dann wird es Stück für Stück die Erfahrung machen, dass auch Papa kuscheln, tragen, Fläschchen reichen und trösten kann.