Artikelinhalt
- Das 1. Wunder noch im Kreißsaal: So viel Liebe, so viel Kraft
- Das 2. Wunder am Küchentisch: Essen lernen, ganz entspannt
- Das 3. Wunder heißt Wiederholung: Rituale geben Halt
- Das 4. Wunder ist gesundes Misstrauen: Du gehörst zu mir
- Das 5. Wunder braucht Mut: Auf eigenen Beinen
- Das 6. Wunder ist laut: Ich weiß, was ich will
- Das 7. Wunder ist leise und so schön: Mein Herz schlägt in deinem Takt
Das 1. Wunder noch im Kreißsaal: So viel Liebe, so viel Kraft
Die Geburt ist geschafft, das Baby ist da. Winzig, rot und schrumpelig liegt es zwischen den Beinen seiner Mutter. Doch was ist das? Plötzlich rappelt sich das winzige Baby auf, winkelt seine Ärmchen an und beginnt, langsam, aber zielstrebig loszurobben – über den Bauch seiner Mama hinweg bis zu ihrer Brust. Ein uralter Überlebenstrick der Natur, der in früheren Zeiten dafür sorgte, dass Babys auch nach einer schwierigen Geburt allein zur Milch gelangen konnten. Heute werden die meisten Neugeborenen gleich nach der Geburt zum Kuscheln auf Mamas oder Papas Brust gelegt. Doch allein der Gedanke an den unglaublichen Überlebenswillen, den unsere Babys da mitbringen, kann auch heutigen Eltern Mut machen: Wir sind nicht allein mit unserer Mammut-Aufgabe, dieses Kind groß zu kriegen – unser Kleines hilft von Anfang an kräftig mit.
So hilft die Fähigkeit im Alltag: "Das Baby kann selbst die Brust finden!"
Regine Gresens, Stillberaterin und Buchautorin ("Intuitives Stillen", Kösel, 15,99 Euro) erklärt: "Nicht nur ganz frisch geborene Babys können eigenständig zur Brust gelangen – diese intuitiven Stillreflexe bleiben monatelang erhalten. Das heißt: Auch sechs oder acht Wochen nach der Geburt können Mütter sich ihr Kleines noch ganz entspannt bäuchlings auf den Oberkörper legen, sich zurücklehnen und abwarten, was passiert. In meiner Praxis habe ich schon oft erlebt, dass selbst Babys, die bis dahin starke Stillschwierigkeiten hatten, dann plötzlich zur Brust robbten und dort perfekt ansaugten, als hätten sie nie etwas anderes getan."
Das 2. Wunder am Küchentisch: Essen lernen, ganz entspannt

Das Kleine schmatzt leise, leckt sich die Lippen, wendet unruhig das Köpfchen hin und her. So zeigen schon ganz kleine Babys ihren Eltern, wann sie Hunger haben und Milch brauchen. Mit etwa einem halben Jahr passiert dann was Spannendes: Das Kleine hibbelt plötzlich aufgeregt auf dem Schoß hin und her, wenn Mama ihr Frühstücksbrötchen schmiert. Beim Mittagessen sperrt es seinen Mund auf wie ein gieriges Vögelchen. Es versucht, nach der Gabel zu greifen, schnappt nach dem Croissant in Papas Hand - klarer Fall von Beikost-Reife!
So hilft diese Fähigkeit im Alltag: "Zum richtigen Zeitpunkt klappt der Start wie von selbst"
Beikost-Expertin und Fachbuchautorin Tatje Bartig-Prang ("Breifrei. Baby-led Weaning: Einmal kochen – alle essen mit", Trias, 14,99 Euro) erklärt: "Babys spüren intuitiv, wann sie bereit sind zum Essenlernen. Bei manchen ist das schon mit vier Monaten der Fall, bei anderen erst mit acht, die meisten liegen irgendwo dazwischen: deshalb die Empfehlung, mit ungefähr einem halben Jahr anzufangen. Am entspanntesten verläuft der Beikost-Start jedenfalls, wenn Eltern sich nicht von Beikost- Fahrplänen unter Druck setzen lassen, sondern einfach auf ihr Baby gucken: Interessiert es sich fürs Essen? Kann es für die Dauer einer Mahlzeit schon gestützt aufrecht sitzen? Schiebt es nicht mehr alles mit der Zunge aus seinem Mund? Dann ist der perfekte Zeitpunkt zum Anfangen gekommen!"
Das 3. Wunder heißt Wiederholung: Rituale geben Halt
Nach dem Wickeln kommt der Schlafsack, dann das Stillen oder das Abendfläschchen, dann das Schlafen: Im ersten Lebensjahr machen Babys sich ein Bild davon, wie die Welt funktioniert. Dabei ist ihr Gehirn darauf gepolt, wiederkehrende Abfolgen als besonders wichtig einzuordnen: Was immer gleich ist, gibt Halt und Sicherheit. Deshalb sind Babys bereits mit drei Monaten in der Lage, ein bisschen in die Zukunft zu gucken. Wenn Papa das Badewasser einlässt, rudern sie freudig mit den Armen, weil sie wissen: Gleich wird's nass. Und wenn Mama es sich im Sessel bequem macht und das T-Shirt hochschiebt, hören sie auf zu weinen: Ist ja klar, dass sie gleich an die Brust dürfen.
So hilft diese Fähigkeit im Alltag: "Sicherheit kommt durch Verlässlichkeit"
Astrid Draxler, Paar- und Familientherapeutin und Buchautorin ("Das Fenkid Buch für Eltern", Kösel, 19,99 Euro), erklärt: "Kleine Babys können nicht warten. Dazu fehlt ihnen die Fähigkeit, Zeit richtig einordnen. Zu verstehen, was es bedeutet, in fünf Minuten loszumüssen – dazu ist erst ein Schulkind in der Lage. Vorher entwickeln kleine Kinder über die Dauer immer gleicher Handlungen langsam ein Gefühl für Zeitabläufe: 'Sobald wir fertig sind mit Tischdecken, können wir essen.' Das schenkt ihnen Sicherheit und Geborgenheit."
Das 4. Wunder ist gesundes Misstrauen: Du gehörst zu mir
Das ist meine Mama, und das ist mein Papa: Ihre liebsten Lieblingsmenschen können Babys von Geburt an von anderen unterscheiden. Ist doch klar: Sie erkennen ihre Stimmen noch aus der Zeit im Bauch, ihren Geruch vom Kuscheln Haut an Haut gleich nach der Geburt und den Duft der süßen Mamamilch. Doch auch Fremden gegenüber sind kleine Babys meist ziemlich offen: lächeln sie an, schäkern mit ihnen, lassen sich auf den Arm nehmen. Dann, mit einem guten halben Jahr, plötzlich die Veränderung: Das Baby wird scheuer, misstrauischer, schüchterner. Es wendet sich ab, wenn Opa ihm ein Begrüßungsküsschen geben will, und es versteckt sich manchmal sogar bei Mama vor der Babysitterin. Der Grund: Das Kleine macht gerade einen immens wichtigen Entwicklungsschritt– es findet heraus, wer zu seinem Clan gehört.
So hilft diese Fähigkeit im Alltag: "Jedem zu vertrauen, wäre nicht sicher"
Dr. Jörn Borke, Entwicklungspsychologe an der Uni Magdeburg-Stendal, erklärt: "Eltern sind oft irritiert, wenn ihr unkompliziertes, sonniges Baby plötzlich skeptisch wird – da hilft es, sich klarzumachen: Dass das Baby nun vorsichtiger ist als bisher, dient seinem eigenen Schutz. Zum einen ist es nun motorisch so weit entwickelt, dass es sich selbst in Gefahr bringen kann – etwa, indem es sich kopfüber vom Sofa stürzt. Da ist gesunder Respekt vor neuen Situationen einfach wichtig. Auch die Scheu anderen Menschen gegenüber ist ein Schutzreflex: Jetzt vertraut das Baby nicht mehr blind, sondern guckt, mit wem es bereits positive Erfahrungen gemacht hat. Das müssen nicht nur die Eltern sein: In unseren Feldforschungen in Kamerun haben wir etwa festgestellt, dass Babys auch in der Fremdelphase mehrere Bezugspersonen außerhalb der Kernfamilie haben können – entscheidend ist, dass sie sie regelmäßig sehen und ein liebevolles Miteinander erleben. Das heißt: Eltern können sich bei der Betreuung ihres Babys jetzt schon guten Gewissens von anderen Menschen unter die Arme greifen lassen. Denn sobald das Kleine sie in seinen Kreis der Vertrauten aufgenommen hat, wird es sich bei ihnen sicher und geborgen fühlen."
Das 5. Wunder braucht Mut: Auf eigenen Beinen

Wie von einem unsichtbaren Magneten werden Babys gegen Ende des ersten Lebensjahres in die Höhe gezogen. Sie richten sich am Sofa auf, hangeln sich die Tischkante entlang, schieben den Küchenhocker vor sich her und tasten sich so nach und nach an die ersten freien Schritte heran. Was sie dafür können müssen, ist beachtlich: das Gleichgewicht halten, beide Beine koordinieren, das Ziel im Blick behalten. Und vor allem: Mut haben, es wieder und wieder zu probieren, auch wenn sie schon hundertmal auf dem Po gelandet sind.
So hilft diese Fähigkeit im Alltag: "Laufen lernen macht stark und stolz"
Leonie Lemm, Physiotherapeutin, erklärt: "Was muss das für ein Hochgefühl sein: die ersten freien Schritte zu machen und zu spüren – ich kann's! Nur zu verständlich, dass Eltern auf diesen Moment oft sehnsüchtig warten. Und gerne auch ein bisschen nachhelfen wollen beim Laufenlernen – etwa, indem sie ihr Kind an den Händen führen, wo es tatsächlich auch ganz glücklich einen Fuß vor den anderen setzt. So gut ich diesen Impuls verstehen kann – fürs Baby ist es besser, auf solche gut gemeinten Hilfestellungen zu verzichten. Der Grund: Jedes Baby durchläuft ganz intuitiv alle wichtigen Vorstufen des Laufens, bevor es tatsächlich alleine losmarschiert. All das Drehen, Krabbeln, Hochziehen und Entlanghangeln an Möbeln schult seinen Gleichgewichtssinn und seine Koordinationsfähigkeit und stärkt seine Muskeln für die ersten freien Schritte. Beim geführten Laufen werden diese wichtigen Entwicklungsstufen übersprungen oder abgekürzt, was später Probleme machen kann. Deshalb: lieber abwarten und staunend zugucken, wie das Kleine ganz von selbst zu laufen beginnt."
Das 6. Wunder ist laut: Ich weiß, was ich will

Der erste Wutanfall kommt wie aus dem Nichts, irgendwann um den ersten Geburstag herum. Gerade spielte das Kleine noch friedlich im Sandkasten, jetzt soll es nach Hause gehen – und plötzlich brennt die Luft. Das ganze Kind ist nichts als Zorn. Mit knallrotem, tränenüberströmtem Gesicht schreit es und kickt verzweifelt um sich, als würde es gerade entführt. Die Leute gucken. Der Puls steigt. Erziehungsversagen? Nein: unverzichtbarer Bestandteil der Entwicklung zur eigenen Persönlichkeit!
So hilft diese Fähigkeit im Alltag: "Jetzt lernen Kinder den Umgang mit großen Gefühlen"
Katja Seide, Sozialpädagogin und Autorin ("Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn", Beltz, 14,95 Euro), erklärt: "Mit etwa einem Jahr verstehen Kinder langsam, dass sie kein Teil von Mama und Papa sind – sondern eigenständige, unabhängige kleine Menschen mit einem eigenen Willen. Das fühlt sich einerseits toll an, andererseits aber auch sehr unheimlich – vor allem wenn sie feststellen, dass ihre eigenen Wünsche nicht immer mit denen der großen übereinstimmen. Passiert das, erleben Kinder zum allerersten Mal im ihrem Leben Gefühle wie Wut und Trauer. Ihr unfertiges Gehirn wird von diesen starken Emotionen überrollt wie von einer riesigen Welle. Unsere Kinder sind diesen Gefühlsstürmen anfangs völlig hilflos ausgeliefert, weil sie noch keine Strategien entwickeln konnten, damit umzugehen. Und hier kommen wir Eltern ins Spiel: Wenn wir unsere Kinder jetzt schimpfen oder ignorieren, lassen wir sie mit ihrem Stress allein. Begleiten wir unsere Kinder hingegen durch ihre Traurigkeit, ihre Verzweiflung und ihren Zorn, können sie lernen, mit diesen großen Gefühlen umzugehen. Es geht also nicht darum, einen Wutanfall so schnell wie möglich zu beenden. Sondern Kindern zuzugestehen, auch mal sauer zu sein, und trotzdem freundlich und zugewandt zu bleiben. Benennen Eltern die heftigen Gefühle und zeigen ihrem Kind Strategien zur Entspannung, lernt es nach und nach, seine Emotionen selbst zu regulieren."
Das 7. Wunder ist leise und so schön: Mein Herz schlägt in deinem Takt
Spüren, wie es anderen Menschen geht: Das können Babys von Geburt an. Deshalb weinen sie oft mit, wenn ein anderes Kind weint. Sie lassen sich von der Freude, Traurigkeit oder Anspannung ihrer Eltern so leicht anstecken. Dass ihr Gegenüber aber auch ganz anders fühlen kann als sie selbst – das entdecken Kinder erst mit etwa 18 Monaten. Typisches Beispiel: Sie stellen beim gemeinsamen Essen fest, dass sie selbst keinen Brokkoli mögen, Papa aber schon – und geben das ungeliebte Grüngemüse darauf- hin an ihn ab. Gilt es hingegen, Kekse zu verteilen, die alle mögen, achten sie darauf, dass auch jeder was davon bekommt. Das zeigt, dass sie die Fähigkeit zum Perspektivwechsel entwickelt haben: Sie können die Welt aus den Augen eines anderen Menschen sehen. Ein unglaublich komplexer und wichtiger Entwicklungsschritt, der den Grundstein für die Entwicklung von Rücksicht und Mitgefühl, aber auch von einem ersten Empfinden von Moral legt. Die Folge: Kinder können jetzt Schuld und Scham empfinden, aber auch Stolz und die Freude, etwas gut und richtig gemacht zu haben – je nachdem, wie wir Eltern darauf reagieren.
So hilft diese Fähigkeit im Alltag: "Verständnis stärkt das Einfühlungsvermögen"
Almut Starke, Pädagogin aus Berlin, erklärt: "In meinen Kursen erlebe ich es oft, das Eltern irritiert sind vom Sozialverhalten ihrer Anderthalbjährigen: Im einen Moment sind sie schon so rücksichtsvoll und verständig, und im nächsten Moment hauen sie ein anderes Kind auf den Kopf, weil sie seine Schaufel haben wollen. Wie passt das zusammen? Nun: Nur weil Kleinkinder in diesem Alter erste Schritte in Richtung Empathieentwicklung machen, heißt das nicht, dass sie ihre neue Fähigkeit in jeder Situation anwenden können. Im Gegenteil: Jedes Mal, wenn sie es schaffen, den Blickwinkel ihres Gegenübers einzunehmen, ist das eine kleine Meisterleistung. Der Normalfall im zweiten Lebensjahr ist jedoch, dass kleine Kinder ihren spontanen Impulsen folgen. Und wenn sie die Schaufel haben wollen, wollen sie die Schaufel! Jetzt zu schimpfen, ist total kontraproduktiv: Stress lässt nämlich jedes Mitgefühl verschwinden. Viel hilfreicher ist es, Verständnis für den Impuls des Kindes zu zeigen und gleichzeitig das andere Kind zu schützen. So verinnerlichen beide: Manchmal wollen wir unterschiedliche Dinge. Aber wir dürfen einander nicht wehtun."