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Schreibabys Baby, bitte hör auf zu weinen

Stundenlanges Brüllen, Schlaf in Mini-Portionen und Gefühlsextreme - das Leben mit einem Schreibaby kann Eltern enorm belasten. Wie kommt das Familienleben wieder ins Lot?

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Wenn nichts mehr hilft

Drei Monate. Das war die magische Zahl, das Licht am Ende des Tunnels. Mit drei Monaten würde Leon endlich besser schlafen, nicht mehr im Anderthalb-Stunden-Rhythmus die Brust wollen. Und vor allem nicht mehr so viel schreien. Das sagten alle - die Großeltern, die Freundinnen, die Säuglings-Ratgeber, die sich Leons Mutter Sibylle Breitling (Name geändert) stapelweise zugelegt hatte. Auch der Kinderarzt hatte sie beruhigt: Körperlich sei alles in bester Ordnung mit dem Kleinen. Aber dann verstrich das ersehnte Datum, und noch immer stand Leons kleiner Körper unter ständiger Anspannung. Noch immer wachte er mindestens alle zwei Stunden auf und kam nur auf etwa acht Stunden Schlaf, Tag und Nacht zusammengerechnet. Und jeden Nachmittag, wenn es auf 17 Uhr zuging, begann das Weinen.

Ein Weinen, gegen das nichts half - kein Schnuller, keine Spieluhr, kein stundenlanges Herumtragen im Fliegergriff. Bis die Mutter selbst in Tränen ausbrach. "Ich war oft so verzweifelt", erinnert sich die 33-Jährige, "weil ich dachte: Vielleicht hat der Arzt doch etwas übersehen, und Leon tut etwas weh. Es war dieses Gefühl der Machtlosigkeit: Mein Kind versucht ganz dringend, mir etwas zu sagen, und kommt nicht damit bei mir an. Und wer sollte ihn dann verstehen, wenn nicht mal ich?"

Sibylle und ihr Sohn sind mit dieser Erfahrung nicht allein. Experten schätzen, dass etwa jedes fünfte Kind in Deutschland ein "Schreibaby" ist. Nach Definition von Fachleuten wie der Münchner Säuglingsforscherin Mechthild Papousek sind das Babys, die über einen Zeitraum von drei Wochen an mindestens drei Tagen pro Woche mindestens drei Stunden lang weinen. Das nicht zu beruhigende Schreien ist es nicht allein, was Eltern verunsichert und auslaugt: Fast immer kommen massive Schlafprobleme dazu.

Ob es heute mehr solcher Kinder gibt als früher, darüber gehen die Ansichten auseinander - jedenfalls wird das Phänomen heute ernster genommen. Zum Vorteil der Betroffenen. "Es war nicht leicht für mich, Hilfe zu suchen", erinnert sich Sibylle, "denn das fühlte sich an wie ein Schuldeingeständnis: Jetzt hast du ein Kind und kommst nicht damit klar." Die so beliebte wie vage Erklärung "Dreimonatskoliken" überzeugte sie nicht - tatsächlich können auch aktuelle medizinische Studien keinen Zusammenhang zwischen vermehrtem Schreien und der Verdauung nachweisen.

Kleine Sensibelchen

Die erste Zeit mit Baby war wie eine andauernde Prüfungssituation

Auf eines können sich Säuglingsforscher, Ärzte und Heilpraktiker einigen: Schreibabys leiden unter einer "Regulationsstörung". Das heißt: Sie sind extrem sensibel und dadurch leichter überreizt als andere Babys. Ähnlich wie ein Erwachsener, der nach einem aufwühlenden Kinofilm nicht schlafen kann - nur, dass für einen überempfindlichen Säugling schon das Mobile über dem Wickeltisch zu viel sein kann. Also eine Frage von Veranlagung? Auch - aber nicht nur: "Kein Schreibaby gleicht dem anderen", sagt die Körpertherapeutin Monika Wiborny, die mit zwei Kolleginnen eine Schreibaby-Ambulanz in Hamburg betreibt. "Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die zu einer erhöhten Reizbarkeit führen können. Vor allem belastende Erlebnisse während der Schwangerschaft oder der Geburt."

So war es bei Sibylle: Zunächst sah alles nach einer Bilderbuch-Entbindung aus, doch dann kam die Geburt nach zwölf Stunden Wehen ins Stocken. Die Ärztin riet zu einem Notkaiserschnitt. "Mein Freund Daniel und ich mussten beide weinen, so enttäuscht waren wir", erinnert sie sich. Zwar war der Schock schnell vergessen, als die Hebamme den Eltern das Baby zeigte ("Der größte Glücksmoment meines Lebens!"), aber schon im Krankenhaus fiel der frischgebackenen Mutter auf, dass ihr Baby unausgeglichener war als andere. Zwar hatte sie bald herausgefunden, dass Leon an der Brust meistens friedlich einschlief. Aber eine Krankenschwester ermahnte sie, das solle sie lieber nicht zur Gewohnheit werden lassen. Das verunsicherte Sibylle noch mehr. "Ich hatte schon in der Schwangerschaft das Gefühl: Du darfst jetzt bloß keinen Fehler machen, nichts Falsches essen oder sonst eine Gefahr übersehen", erzählt sie. "Leons Unruhe hat mich erst recht nervös gemacht - und das hat sich wiederum auf ihn übertragen. Es war wie eine dauernde Prüfungssituation."

Auf die innere Stimme hören

Endlich ist es mir gelungen, mein Kind zu beruhigen

Vater Daniel gab sich alle Mühe, Mutter und Kind zu unterstützen, übernahm den gesamten Haushalt, blieb cool im Auge des Sturms. "Wir haben gemerkt, dass wir ein gutes, starkes Team sind, und sind uns dadurch noch näher gekommen", erinnert sich Sibylle.

Weniger stabile Partnerschaften leiden oft zusätzlich: Wenn die Nerven blank liegen, führt mitunter ein falsches Wort zum Zornausbruch. Gegen einander - aber auch gegen das Kind. Denn das Gefühl der Machtlosigkeit kann umschlagen in Aggression. Leons Mutter fand sehr schnell einen Weg, damit umzugehen. "Manchmal hat mich sein Geschrei einfach nur noch wahnsinnig gemacht. Dann war die Wut fast so groß wie das Mitleid. In solchen Momenten bin ich einfach ins Nebenzimmer gegangen und habe auf ein Kissen eingehauen." Doch nicht selten werden Schreibabys tatsächlich Opfer von Misshandlungen: Zu überwältigend kann der Impuls sein, das brüllende Bündel zu nehmen und zu schütteln. Für Säuglinge lebensgefährlich.

Schließlich landete Sibylle mit ihrem Sohn in Monika Wibornys Hamburger Schreiambulanz. Und lernte dort vor allem eines: auf ihre innere Stimme zu hören. "Durch die vielen Bücher und die Tipps aus meinem Umfeld war ich komplett verunsichert", erzählt sie. "In der Beratung habe ich dann ganz schnell verstanden, dass ich meiner eigenen Intuition vertrauen darf." In den Schlaf stillen, das Baby ins eigene Bett holen - warum nicht, wenn es allen zugute kommt? "Die Mutter bemuttern" - so lautet ein wichtiges Motto dieser Einrichtungen, die in den letzten Jahren deutschlandweit entstanden sind. Sich aussprechen zu können, ist mindestens so entlastend wie die entspannenden Massage- und Atemtechniken.

Nach einigen Sitzungen ging es Mutter und Kind besser: "Leon ist viel weicher geworden, ruht jetzt in sich - das reinste Buddha-Baby", sagt Sibylle mit Erleichterung. Endlich hat sie das Gefühl, dass ihre liebevollen Gesten wirklich ankommen: "Er weint zwar immer noch viel - aber jetzt kann ich ihn beruhigen. Ein enormer Unterschied!"

Auch die Nächte sind ruhiger: Zwar kommt Leon auch mit fünf Monaten noch immer alle zweieinhalb bis drei Stunden, nickt nach dem Trinken jedoch wieder ein. "Klar werde ich ein bisschen neidisch, wenn ich von Müttern in unserer PEKiPGruppe höre, deren Kinder sechs Stunden am Stück schlafen - aber dafür ist Leon so eine tolle, kleine Person. Ich genieße das Leben mit ihm jetzt viel mehr." Die Lust am Kinderkriegen ist ihr jedenfalls nicht vergangen: Leon soll auf jeden Fall noch ein Geschwisterchen bekommen.

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