Nicole ist eigentlich immer gerne gejoggt. Am liebsten bei strahlendem Sonnenschein an der Elbe entlang. Für sie die perfekte Sportart, um vom Alltag abzuschalten und den Körper fit zu halten. Als sie schwanger wurde, beschloss Nicole zu pausieren. Ein paar Monate nach der Geburt ihres Sohnes sollte es wieder richtig losgehen. Den Rückbildungskurs hatte sie schon abgeschlossen, einer Laufrunde mit Lukas im Buggy stand nichts mehr im Weg. Der erste Versuch: nur ein paar Kilometer, alles super. Kind und Mama glücklich. Die zweite Runde: Fing super an. Doch dann merkte Nicole nach ungefähr einem Kilometer, dass es zwischen den Beinen nass wurde. Und zwar so richtig. Wie unangenehm, sie hatte eine graue Laufhose an! Schnell nach Hause. Leider blieb dies kein Einzelfall. Bei jedem weiteren Laufversuch verlor Nicole Urin. So viel, dass sie das Laufen lieber aufgab. Beim Husten hatte sie ähnliche Probleme. Darüber reden? Nein, mit wem denn und warum? Ihre Mutter hatte schon immer gesagt: „Nach der Geburt eines Kindes ist da unten alles anders.“ Jetzt wusste Nicole, was sie meinte.

So wie Nicole geht es vielen Frauen. Inkontinenz nach der Geburt eines Kindes ist nichts Außergewöhnliches, sondern betrifft gut 30% aller Mütter. Und das nicht unbedingt direkt nach der Geburt. Manchmal treten Beckenbodenprobleme auch erst viele Jahre später auf, wenn das Bindegewebe der Frau mit zunehmendem Alter etwas schwächer wird. Wieviel Urin Frauen verlieren, ist auch sehr unterschiedlich. Bei einigen handelt es sich nur um ein paar Tropfen, anderen macht die starke Inkontinenz den Alltag unheimlich schwer. Geschwiegen wird über Probleme mit dem Beckenboden trotzdem. Den meisten Frauen ist ihre Blasenschwäche unangenehm und peinlich. Einen Rückbildungskurs haben sie gemacht. Trotzdem keine Besserung. Sich einfach mit einer ab und zu nassen Unterhose abfinden? „Das muss nicht sein“, sagt Kirsten Keller, Physiotherapeutin im Rückenzentrum am Michel in Hamburg. Sie und ihre Kollegin Elisabeth Schrader haben sich auf die Behandlung von Beckenbodenproblemen spezialisiert. Eine ausgeklüngelte Therapie soll Frauen auch noch viele Jahre nach der Geburt ihrer Kinder bei Blasenschwäche helfen. ELTERN online hat die beiden dazu befragt.
ELTERN online: Sie haben sich auf die Therapie von Blasenschwächen spezialisiert. Wer kommt zu Ihnen zur Behandlung?
Kirsten Keller: Wir behandeln werdende und junge Mütter, mit und ohne Kaiserschnitt. Außerdem kommen Frauen nach Unterleib-OPs, z.B. an der Gebärmutter, und viele ältere Patientinnen mit Bindegewebsschwäche zu uns. Manche Frauen haben auch einfach Rückenschmerzen. Erst beim genauen Vorgespräch oder während der Behandlung stellen wir dann fest, dass die Beschwerden vom Beckenboden herrühren.
ELTERN online: Was erwartet die Frauen denn bei Ihnen?
Elisabeth Schrader: Also zunächst einmal ist es wichtig, dass die Frauen bei uns einen geschützten Raum haben und mit uns über ihre Beschwerden offen reden können. Zunächst bitten wir unsere Patientinnen einen Fragebogen auszufüllen. Die Antworten geben uns schon einmal erste Anhaltspunkte über die Probleme. Wir versuchen dann herauszufinden, ob es sich um eine Drang- oder eine Belastungsinkontinenz handelt. Eine Belastungsinkontinenz haben Frauen zum Beispiel, wenn die Inkontinenz durch Lachen, Husten, Treppensteigen oder Sport ausgelöst wird. Dranginkontinenz bedeutet, dass die Betroffenen plötzlich sehr starken Harndrang haben und es kaum bis zur Toilette schaffen.
ELTERN online: Und wie können Sie den betroffenen Frauen dann helfen?
Kirsten Keller: Zunächst kommt ein spezielles Ultraschallgerät zum Einsatz, das die Darstellung des gesamten Beckenbodens ermöglicht. Dabei setzen wir den Schallkopf von außen auf den Damm. Wenn wir unsere Patientinnen nun bitten, den Beckenboden anzuspannen, können wir auf dem Monitor live sehen, ob sie dies tatsächlich tun oder vielleicht nur meinen, die richtigen Muskeln anzuspannen. Das Ganze wiederholen wir auch noch einmal im Stehen, denn das ist meist belastender für den Beckenboden. Noch viel wichtiger: Die Frauen sehen selbst, ob sie die entsprechenden Muskeln richtig anspannen und können so ein viel besseres Gefühl für ihren Körper entwickeln. Wir untersuchen die Frauen aber auch vaginal, um die Spannung des Beckenbodenmuskels zu prüfen. So können wir feststellen, ob wir uns mit einer bestimmten Seite des Muskels vielleicht mehr befassen müssen. Wenn die Frauen erst einmal wissen, wie sie ihren Beckenboden korrekt ansteuern müssen, können sie das bewusste an- und entspannen des Muskels in ihren Alltag einbauen. Da wir in unserer Behandlung einen intensiven Eins-zu-eins-Kontakt haben, können wir uns den Problemen der Patientinnen viel individueller widmen, als in größeren Gruppen.
Elisabeth Schrader: Ein weiterer wichtiger Aspekt ist auch die Hilfsmittelberatung. Es gibt nämlich tatsächlich viele verschiedene Produkte, die betroffenen Frauen dabei helfen, ein möglichst beschwerdefreies Leben zu führen. Es gibt zum Beispiel spezielle Tampons oder Würfel, die sich Frauen einführen können. Diese Hilfsmittel stützen die Muskulatur des Beckenbodens und helfen beim Halten des Urins. Außerdem gibt es Geräte, die den Beckenboden mit einer Vaginalsonde stimulieren. Das können die Patientinnen dann von zu Hause aus anwenden. Wer gerne Sport treibt, muss seine Leidenschaft nicht aufgeben. Wir helfen den Frauen nämlich auch dabei, die passende Sportart für sich zu finden.
ELTERN online: Wie häufig muss eine Patientin denn zu Ihnen kommen?
Elisabeth Schrader: In der Regel reichen drei mal 60 Minuten bei uns für eine Anamnese, Ultraschall-Therapie und die Vermittlung der richtigen Übungen. Wir legen viel Wert darauf, dass die Frauen die Übungen in ihren Alltag integrieren können. Die Übungen können sie dann ganz nebenbei machen. Nach drei Monaten machen wir eine Erfolgskontrolle.
ELTERN online: Und wie hoch ist die Erfolgsrate?
Kirsten Keller: In der Praxis merken wir schnell deutliche Erfolge. Meistens hat sich bereits bei unserem zweiten Termin eine Besserung für die Frauen eingestellt. Wenn die Frauen bei uns erst einmal gelernt haben, wie sie ihren Beckenboden richtig ansteuern können, fällt es ihnen viel leichter, Übungen in den Alltag einzubauen. Eine deutsche Effektivitätsstudie konnte 78% Erfolge bei Drang- 67% bei Stressinkontinenz nachweisen.
Kirsten Keller und Elisabeth Schrader sind erfahrene Manualtherapeutinnen und Expertinnen für Beckenbodendiagnostik und -therapie im Rückenzentrum am Michel in Hamburg. Die Physiotherapeutinnen sind an der Berliner Charité in der speziellen Beckenbodentherapie (Junginger-Baessler-Konzept) ausgebildet worden. Kontakt über www.ruecken-zentrum.de.
Mehr Informationen, insbesondere zu weiteren Kursangeboten und wissenschaftlichen Studien, erhältst Du unter www.physiotherapie-junginger.de.
Adressen von Beckenboden-Zentren deutschlandweit findest du bei der Deutschen Kontinenz Gesellschaft.