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Gesundheit Umstrittenes KISS Syndrom: Was ist dran an Diagnose und Therapie?

Baby liegt auf der Seite
© I Stock Typhoonski
Dein Baby schreit viel, beim Trinken bevorzugt es immer nur die eine Seite, und überhaupt hält es seinen Körper etwas schief bzw. liegt vermehrt mit dem Köpfchen zu einer Seite? Dann wird Dir auf der Suche nach den Ursachen wahrscheinlich der Ausdruck KISS-Syndrom begegnen.

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Angebliche Ursachen des KISS Syndroms

Wenn Babys schreien und schreien, ganz ohne ersichtlichen Grund, dann sind Eltern schnell am Ende mit ihren Nerven. Es gibt kaum etwas Zermürbenderes, als dem verzweifelten Winzling nicht helfen zu können. Erst recht hilflos fühlst Du Dich, wenn einfach kein Grund auszumachen ist. Zumindest nicht aus wissenschaftlicher Sicht. Aber manche Alternativmediziner, Manualtherapeuten und Osteopathen behaupten, dass es doch eine ganz einfache Ursache dafür gibt: Das KISS-Syndrom, das gerade in den ersten Wochen (aber auch später bei Kleinkindern) zu Problemen führen soll. Das zumindest ist die These der Befürworter dieser Diagnose und ihrer Behandlung. 

Was bedeutet der Begriff KISS-Syndrom?

KISS-Syndrom ist die Abkürzung für "Kopfgelenk-induzierte-Symmetrie-Störung" bei Babys. Übersetzt heißt das: eine durch das Kopfgelenk ausgelöste Störung der Symmetrie (also Gleichseitigkeit eines Kindes). Das Kind läge dann eher einseitig, also vermehrt auf zu einer Seite. Der Begriff wurde 1991 von dem Chirurgen Dr. Heiner Biedermann eingeführt. Mit dem KISS-Syndrom an sich ist keine Erkrankung gemeint, sondern lediglich eine Fehlstellung der ersten beiden Kopfgelenke bzw. Halswirbel (Atlas und Axis genannt) bei Babys. Diese Fehlstellung soll ein ganzes Bündel von Symptomen bei Säuglingen und Kleinkindern auslösen:

  • starke Einseitigkeit, also eine klar bevorzugte Seite, zu der das Baby auch immer den Kopf dreht, gilt als Haupt-Symptom
  • eine asymmetrische Kopfform, zum Beispiel einen zu einer Seite extrem abgeflachten Hinterkopf durch vermehrtes Liegen auf einer Seite
  • Probleme beim Stillen, Schluckbeschwerden und Schlafstörungen durch die Einseitigkeit
  • eingeschränkte Beweglichkeit des Kopfes
  • Neigung zum Überstrecken des ganzen Körpers
  • starkes Speicheln
  • häufiges, unstillbares Schreien

Zum KISS-Syndrom kann es angeblich kommen, wenn starker Druck auf den Kopf und die obere Halswirbelsäule der Kindes ausgeübt wird (was bei einer Geburt zwangsläufig passiert). Prädestiniert seien Babys, die in der Schwangerschaft lange in einer Lage verharrt haben, wie etwa Beckenendlage-Kinder. Als Risiko-Gruppe genannt werden von KISS-Verfechtern außerdem Kaiserschnitt-Kinder und Kinder mit hohem Gewicht bei der Geburt bzw. in der Schwangerschaft. 
Sie sind der Auffassung, dass sich das KISS-Syndrom nicht mit der Zeit auswächst. Ganz im Gegenteil meinen sie, dass es unbehandelt in das sogenannte KIDD-Syndrom übergehe. Hier steht die Abkürzung für Kopfgelenk-induzierte Dyspraxie und Dysgnosie. (Dyspraxie = gestörte Handlungs- und Bewegungsabläufe; Dysgnosie = Schwierigkeiten, Gelerntes zu reproduzieren.)
Die Folge seien gestörte Bewegungsabläufe, Konzentrationsschwierigkeiten, Migräne, ADHS, ADS, auffälliges Sozialverhalten und eingeschränkte Wahrnehmung, so die KISS-Verfechter.

Wie wird die Diagnose KISS-Syndrom gestellt?

Baby wird untersucht
© Capifrutta / iStock

Die Therapeuten überprüfen zum einen verschiedene klassische Reflexe, nehmen aber auch die Kopfform in Augenschein sowie auffällige Körperhaltungen, Muskelspannungen und natürlich die altersgemäße Entwicklung. (Das alles sind übrigens Untersuchungen, die auch klassische Kinderorthopäden machen, wenn sie ein Kind mit Asymmetrien bzw. ähnlichen Symptomen untersuchen.) Außerdem prüfen sie, ob der Kopf des Kindes sich problemlos zu allen Seiten drehen kann und ob es die Augen waagerecht halten kann, wenn man es erst aufrecht hält und dann zur Seite neigt. Manche Therapeuten arbeiten auch mit Röntgenbildern des Kopfes oder des Halswirbelbereiches. 

Wie wird das KISS-Syndrom behandelt?

Verschiedene Therapieformen sollen Säuglingen beim KISS-Syndrom schon in den ersten Wochen helfen können. Als gemeinsame Basis gilt, die verschobenen Halswirbel wieder ins Position zu bringen und somit die Bewegungsblockaden zu lösen und auch die Form des Hinterkopfes langfristig wieder normalisieren. Hier einige Behandlungs-Ansätze:
 
Atlastherapie nach Arlen: Hier wird vor allem der erste Halswirbel, der Atlas, behandelt. Er schließt unmittelbar an den Schädel an. Bei dieser Technik legt der Therapeut seine Finger an die Seitenfortsätze des ersten Halswirbels, also rechts und links des Nackens unterhalb der Ohren. Dann übt er einen schnellen Druckimpuls in Richtung Atlas aus. Für die beobachtenden Eltern ist der Vorgang kaum wahrnehmbar.
 
Haio: Hier wird ein wesentlich heftigerer, kurzer Druckimpuls auf den Atlasquerfortsatz ausgeübt. Auch dieser soll die Fehlstellung der Halswirbel beheben und somit das KISS-Syndrom angeblich innerhalb weniger Minuten beseitigen. "Ein seriöser Therapeut  bzw. Arzt mit Erfahrung macht das nach eingehender Diagnose in wenigen Minuten in einer bis zwei Sitzungen. Wenn die nicht erfolgreich sind, liegt etwas anderes vor. Wer da mit der gleichen These weitermacht, handelt nicht redlich," so der niedergelassene Kinderorthopäde Dr. med. Ulrich Göhmann, der seit Jahren auf dem Gebiet arbeitet.
 
Behandlung nach Biedermann/Gutmann. Diese Therapie bezieht die Gelenke zwischen der Schädelbasis und ersten Halswirbel mit ein. Der Druckimpuls kann bei dieser Methode zu beiden Seiten, nach oben und nach unten, erfolgen. (Bei obigen Verfahren gehen die KISS-Behandler von einer Reaktionszeit aus, innerhalb der sie Eltern von weiteren Maßnahmen wie Krankengymnastik abraten, damit der Körper den Impuls verarbeiten könne. Gerade dieser Rat aber ist umstritten, siehe unten.)
 
Osteopathie: Streng genommen widerspricht die Grundannahme der Osteopathie der KISS-Theorie. Denn Osteopathen verstehen Störungen im Bewegungsapparat  immer als ein Zusammenspiel aller Knochen, Muskeln und Sehnen. Dennoch bieten auch viele Osteopathen ihre Arbeit im Zusammenhang mit dem KISS-Syndrom an. "Wir teilen die Auffassung, dass Blockaden im Halswirbelbereich, großen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Kinder haben können. Deshalb benutzen auch wir den Begriff letztendlich der Einfachheit halber zur Verständigung über eine wichtige Problematik", so der Hamburger Dennis Ehrlich, der sich als Osteopath auf Kinder spezialisiert hat. 

Warum ist die Diagnose KISS-Syndrom umstritten?

Babyfüße werden bewegt
© Soleg / iStock

Viele Kinderärzte und Orthopäden stehen dem Begriff kritisch gegenüber, da es keine wissenschaftlich anerkannten Studien gibt, die beweisen, dass es das KISS-Syndrom überhaupt gibt. Deshalb ist die Diagnose auch nicht Bestandteil des international anerkannten Klassifizierungssystems für Diagnosen (ICD-10). 
Der Kinderorthopäde Prof. Dr. Ralf Stücker, Leiter der Kinderorthopäde im Altonaer Kinderkrankenhaus in Hamburg, sieht denn auch die Behandlungsmethoden skeptisch: "Alle diese Behandlungsmethoden beruhen ja auf der Annahme, dass die ersten beiden Wirbel blockiert sind. Wir hingegen gehen davon aus, dass die Verkürzung der Muskeln im Halswirbelbereich zur körperlichen Asymmetrie führt. Auch wir haben bei uns in der Kinderorthopädie etwa zwei bis drei Kinder die Woche, die mit einer solchen Schräglage bzw. Asymmetrie zu uns kommen. Symmetriestörungen bei Säuglingen sind also keine Erfindung von Manualtherapeuten. Es gibt sie, und sie können in der Tat Probleme bereiten.
Allerdings ist die Ursache der körperlichen Asymmetrie häufig in der vorgeburtlichen Stellung in der Gebärmutter während der Schwangerschaft zu suchen und nicht bei den Halswirbeln. Man nennt das „intrauterine Zwangslage“also eine eingeengte, verkrümmte Stellung des Kindes innerhalb der Gebärmutter, die zu einer einseitigen Verkürzung der Rumpf- und Halsmuskulatur führen kann. Nach der Geburt begeben sich die Säuglinge bevorzugt in die Lage, die sie auch am Ende der Schwangerschaft in der Gebärmutter eingenommen hatten."

Wenn diese einseitige Haltung nicht unterbrochen wird, so Stücker, entwickle sich vielfach durch so genannte frühkindliche Reflexe eine Muskelasymmetrie und eine „Fechterstellung". Ebenso eine unterschiedliche Entwicklung der Muskelspannung im Bereich der beiden Körperhälften. Dazu flache sich der Kopf meist auf einer Hinterhauptseite ab, so dass die Neugeborenen automatisch immer in diese einseitige Haltung verfielen, weil sie ja den Kopf noch nicht selbst bewegen könnten. Die unterschiedliche Muskelspannung ist meist der Grund allen Übels und kann hervorragend durch Krankengymnastik oder auch nur sachgerechte Lagerung beeinflusst werden. 

Auch klassische Kinderorthopäden bestreiten die Wichtigkeit der Halswirbelsäule für den Bewegungsapparat also nicht. Sie wehren sich allerdings dagegen, eine solch komplexe Symptomatik wie Haltungsanomalien vorschnell allein auf eine angebliche Blockierung der Gelenke am Kopf zu reduzieren. "Auch wir untersuchen natürlich Kinder, die ungewöhnlich lang in einer körperlichen Asymmetrie verharren, in ähnlicher Weise", so Prof. Stücker.  "Wir gehen nur von einem anderen Ansatz aus, nämlich, dass diese Asymmetrien viele Gründe haben können, die dann ebenso vielschichtig behoben werden müssen, z.B. durch fundierte Krankengymnastik."

Einige weitere Kritikpunkte

Baby weint
© i Stock, franckreporter
  • Viele der Tests auf KISS-Syndrom sind erst ab dem dritten Lebensmonat aussagekräftig. Oft werden sie von KISS-Therapeuten aber schon bald nach der Geburt angewendet.
  • Manche KISS-Therapeuten arbeiten mit Röntgenbildern des Kopfes oder Halswirbelbereiches – eine unnötige Strahlenbelastung.
  • Kritisch sehen viele Ärzte auch die Manipulationen an der kindlichen Halswirbelsäule Druck-Griffe. Hier laufen wichtige Nerven entlang, eine unsachgemäße Behandlung kann Komplikationen nach sich ziehen. 
  • Da die bei KISS beschriebenen Symptome auch viele andere Ursachen haben können (zum Beispiel Skoliose, Klippel-Feil-Syndrom), ist es in jedem Falle wichtig, diese mithilfe anderer Untersuchungen und weiterer Arztmeinungen auszuschließen. „Ich halte deshalb eine vorschnelle Reduzierung auf das KISS-Syndrom für gefährlich, weil sie dazu führen kann, dass andere Diagnoseansätze gar nicht erst verfolgt werden", so Stücker.  "Frühzeitiges Erkennen ist nämlich auch bei anderen Erkrankungen das A und O."
  • Manche KISS-Therapeuten raten, Physiotherapie nach der Behandlung erst einmal auszusetzen. Aber gerade gezielte Krankengymnastik kann den Kindern früh helfen, so Kinderorthopäden mit viel Praxis; sie raten aus Erfahrung von einer Unterbrechung der krankengymnastischen Behandlung ab. Die Folgen seien sonst nicht unerheblich.
  • Einige Ärzte formulieren es drastischer und kritisieren, dass manche Therapeuten die Verzweiflung der Schreibaby-Eltern ausnutzen, indem sie sich die umstrittenen KISS-Therapien teuer bezahlen lassen – denn die Kassen zahlen dafür nicht. Eventuelle Erfolge führen sie darauf zurück, dass eine angeblich klare Diagnose die Eltern von Schuldgefühlen befreie und damit für Entspannung sorge. Diese Ruhe und Zuversicht überträgt sich aufs Baby. Ganz abgesehen davon, dass sich manche der Anfangsschwierigkeiten eben auch in den ersten Lebensmonaten ganz von selbst auswachsen.


Bleibt noch zu sagen, dass auch ein Besuch in einer Schreiambulanz Entlastung für Euch als Eltern und auch für Euer Kind bringen kann, denn dort hat man mit dem Thema viel Erfahrung und kann gute Tipps für den Umgang mit Säuglingen geben, die übermäßig viel weinen. Auch Hebammen können in den ersten Wochen gute Ansprechpartner für eine erste Einschätzung sein. 

Ob aber eine richtige Erkrankung vorliegt, kann nur ein Kinderarzt bzw. Kinderfacharzt klären bzw. erkennen. Es ist also ratsam, sich nicht zu schnell auf eine einzelne Erklärung für das Schreiverhalten eines Säuglings festlegen zu lassen, sondern immer mehrere Meinungen von verschiedenen Fach-Ärzten einzuholen, wenn Auffälligkeiten bei Neugeborenen vorliegen.​

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