Liebe auf den ersten Blick

Der Idealfall ist Liebe auf den ersten Blick. Wenn ein frisch geschlüpfter Mensch auf Mamas Bauch liegt, k. o. von der Geburt, aber neugierig auf die Welt, wenn er so guckt, erste vorsichtige Nuckelbewegungen macht, dann fließen auch die Herzen der Eltern über. Sie müssen dieses Wesen einfach gern haben. Die Mutter ist müde, aber glücklich, der Vater stolz, und im Film würden jetzt die Geigen einsetzen. So muss es sein. Nur: So ist es oft nicht. Die Wirklichkeit sieht in vielen Fällen ganz anders aus.
Selbstverständlich ist eine Geburt immer ein besonderer Moment. Magisch vielleicht und, je nach Temperament (aller Beteiligten), mal eher romantisch, mal eher nüchtern. Und genauso unterschiedlich entwickelt sich direkt nach der Geburt die neue Beziehung der drei Menschen. Bonding (englisch für Bindung) nennen Psychologen dieses vorsichtige Herantasten, dieses erste zarte Fäden knüpfen, das ja der Beginn einer wunderbaren, lebenslangen Freundschaft sein soll. Wohlgemerkt: der Beginn. Manche junge Eltern sind verstört, wenn sie nicht sofort mit heftiger Liebe auf das Neugeborene reagieren. Weil zu viele Illusionen über das Elternglück kursieren, die mit der gelebten Realität nicht immer übereinstimmen. Damit gar nicht erst ein schlechtes Gewissen aufkommt, hier drei Mythen und Wahrheiten zum Thema Bonding. Damit die Liebe sich Zeit lassen darf.

Wir sind überglücklich
Der Mythos: Wir sind überglücklich.
Die Wahrheit: Junge Eltern wollen oft zu viel zu schnell. Ihre Erwartungen sind hoch, aber: Wie viel Liebe, wie viel Glück ist normal im Kreißsaal? Bin ich eine schlechte Mutter, wenn ich nicht euphorisch, nicht superglücklich bin? Lieben alle Väter ihre Kinder sofort? Einmal Klick und es ist gut? "Nein", sagt Bindungsforscherin Dr. Karin Grossmann. "Überschwängliches Glück ist eher die Ausnahme und nicht die Regel. Schön, wenn es da ist, aber kein Drama, wenn es fehlt."
Am Institut für Psychologie an der Universität Regensburg hat die Psychologin Hunderte von Geburten begleitet und festgestellt: "Die meisten Paare erwarten einfach zu viel von sich. Es ist weder ein Zeichen von Lieblosigkeit, noch schadet es dem Baby, wenn es nicht sofort auf himmelblauen Wolken landet." In Kulturen wie Asien oder Afrika käme kein Mensch auf die Idee, nach den stressigen Stunden der Geburt auch noch lautstarke Gefühlsäußerungen von jungen Müttern zu fordern. Liebe braucht Zeit und Raum zum Wachsen. Manchmal ein paar Stunden, manchmal ein paar Tage, manchmal ein paar Wochen. Irgendwann im ersten Jahr ist sie dann plötzlich da. Garantiert.
Unser Baby ist das schönste!
Der Mythos: Unser Baby ist das schönste, tollste, süßeste auf der Welt.
Die Wahrheit: Die Zeit nach der Geburt ist ein ungünstiger Moment, sich zu verlieben. Liebe lässt sich nicht erzwingen, die auf den ersten Blick schon gar nicht. Schließlich verlieben wir uns normalerweise vor allem dann, wenn wir gut drauf sind, wenn wir uns und das Gegenüber attraktiv finden, wenn der Kopf nicht allzu voll ist mit schweren Gedanken. Zwar überschwemmt beim Anblick des Babys nach der Geburt jetzt eine ganze Reihe von Hormonen den Körper der Mutter und (in Maßen) auch den des Vaters, reine Glücksmacher sind aber nicht dabei: Adrenalin und Endorphine machen vor allem wach und neugierig auf das Baby.
Unsere Liebe ist immer zärtlich
Der Mythos: Unsere Liebe ist immer zärtlich.
Die Wahrheit: Zärtlich, strahlend und gleichmäßig rosarot – im Fernsehen können wir jeden Tag beobachten, wie Mutter- und Vaterliebe auszusehen hat. Und dann ist man zu Hause, würde den Wurm am liebsten schütteln, damit er aufhört zu schreien. "Dass Eltern ihr Kind lieben, kann sich anfangs eher als Sorge um ihr Baby äußern als in zärtlichen Gefühlen", beruhigt Psychologin Karin Grossmann. Wenn Sie also Ihr Bauchweh-Baby durch die Wohnung tragen, können Sie sich darauf verlassen, dass die Liebe quasi automatisch wächst. Ein gutes Team wird immer besser, je häufiger es trainiert. Indem die Großen die Bedürfnisse der Kleinen zuverlässig erfüllen, wächst ihre Fähigkeit, die feinen Signale des Babys genauer zu deuten. Wer weiß, was der Winzling will, kann ihm leichter helfen. Das ist ein großartiges Gefühl und wir alle lieben Menschen, die uns großartige Gefühle bescheren.