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Aron und sein blauer Topf
Am Anfang ist das Wort. „Was sage ich denn jetzt?“, überlege ich auf dem Weg zu Melanie. Sie erzieht ihren drei Monate alten Sohn Aron windelfrei – und ich darf mir mal einen Tag lang anschauen, wie das funktioniert. Wie zeigt ihr der winzige Aron, dass er mal Pipi muss? Und wie, dass er ... ja was? „Großes Geschäft“ klingt für mich ein bisschen altmodisch- verklemmt. Aber irgendwas muss ich ja sagen, wenn ich mit Melanie rede. Es ist so oder so ein seltsames Gefühl, einen Text zu schreiben, bei dem es hauptsächlich um Ausscheidungen gehen wird. Nicht, dass ich mit Kinderkaka Probleme hätte. Das eigene Kind trainiert einem diese Scheu ja zuverlässig ab: Ich habe bei meiner Tochter Tausende Windeln gewechselt. Und jetzt, da sie keine mehr braucht, sorgt meine zweijährige Nichte dafür, dass ich nicht aus der Übung komme. „Nina Windel!“, bittet sie oft mit unwiderstehlichem Lächeln. Aber meine Schwester und ich, wir sind Wegwerfwindel-Mütter. Wir konnten und können nicht ohne diese Dinger, die mit ausgefeilter integrierter Technik dafür sorgen, dass alles Feuchte und Quatschige im Inneren der Windel verschwindet – und dabei riesige Müllberge produzieren. Ich habe mich damals für den unkomplizierten Weg entschieden. Ich fand das Leben mit Baby schon fordernd genug. Dann auch noch in Gretas Gesicht zu forschen, ob sie mal muss, und sie dann schnell mit nacktem Po über ein Waschbecken oder einen Busch zu bekommen? Ganz ehrlich: Ich glaube, das hätte mir den Rest gegeben.
Stillbabys machen ihr großes Geschäft beim Trinken
Melanie wirkt eigentlich ganz entspannt, als sie mir die Tür öffnet. Auf einer Decke auf dem Boden strampelt Aron. Er trägt einen Body, über dem Bauch hochgerollt, wollseidene Stulpen an den Beinchen – und dazu einen nackten Po. Er gluckst und folgt mit den Augen den bunten Ringen, die an seinem Spielbogen hin- und herschwingen. Als Melanie Kaffee macht, schlägt Arons Gurren in leises Meckern um. „Hast du Hunger?“ Melanie nimmt ihren Sohn auf und setzt sich wieder an den Esstisch. Sie öffnet ihre Bluse und legt Aron an, dann greift sie zu einem kleinen blauen Töpfchen mit hohem Rand, das sie an den nackten Babypo hält. „Stillbabys machen ihr großes Geschäft meistens, wenn sie trinken“, erklärt sie mir. Ich registriere: Melanie sagt „großes Geschäft“. Dann donnert schon ein erster großer Pups in das Eimerchen. „Siehst du?“ Melanie stellt den Eimer zu Boden und wischt Arons Po mit einem Papiertaschentuch ab.
Melanie wollte schon Arons große Schwester, die heute zweijährige Janina, windelfrei erziehen. Aber das hat nicht richtig geklappt. „Ich saß stundenlang vor Janinas Krabbeldecke und habe auf Signale geachtet. Und genau in dem Moment, als ich mal kurz in der Küche war, hat sie gepinkelt.“
Melanie zuckt mit den Schultern. „Sie wollte anscheinend lieber ungestört sein.“ Heute macht sie es mit ihrer Älteren, wie es gerade geht. Seit sie es bei Aron sieht, geht Janina gern aufs Töpfchen; bis vor Kurzem hat sie Stoffwindeln getragen und in der Kita auch mal die zum Wegwerfen. Zu denen greifen manchmal auch der Vater und die Groß- eltern der Kinder. Jetzt will Melanie es noch einmal mit Aron versuchen und findet, dass es ganz gut klappt: „Wir verstehen uns gut.“ Aber ist man bei der Windelfrei-Methode nicht zu sehr auf die Ausscheidungen des Kindes fixiert? Melanies Antwort kommt schnell und überzeugt: „Nein. Ich starre Aron auch bewusst nicht an, sondern versuche, es ihm beiläufig anzubieten.“
Warum windelfrei?
Wie sie überhaupt auf die Windelfrei- Idee gekommen ist? „Ich habe noch nie etwas als gegeben hingenommen“, sagt Melanie. „Das war schon als Kind so.“ Wenn alle Mütter um sie herum Wegwerfwindeln benutzen, dann fragt sich Melanie zuerst einmal, warum das so ist. Und denkt darüber nach, wie sie das für sich lösen möchte. „Ich mag keine Standard-Infos“, sagt sie. So wie: Zu einem Kind gehört ein Kinderwagen. Und Pampers. „Ich möchte, dass meine Kinder es mitbekommen, wenn sie Pipi machen oder ein großes Geschäft. Sie sollen ein Gefühl für ihren Körper und ihre Bedürfnisse bekommen.“ Das tue beiden gut, sagt Melanie. „Wenn man auf die Signale des Kindes achtet, dann macht das die Beziehung inniger. Ich habe das Gefühl, Aron etwas Gutes zu tun.“ Auch wenn die Kinder hoch fiebern, erzählt Melanie, messe sie praktisch nie Fieber. „Ich beobachte lieber genau, wie es meinem Kind geht, anstatt aufs Thermometer zu starren.“
Natürlich ist das Leben ohne Windeln auch umständlich. Wie zum Beispiel neulich, als sie den ersten Urlaub zu viert machten. Da hat Aron nachts dreimal genau in dem Moment sein „großes Geschäft“ gemacht, als Melanie ihn aus dem Strampler packte: Es scheint, als hätte er sich schon jetzt daran gewöhnt, das mit nacktem Po zu erledigen, anstatt in eine Windel oder Hose. „Zum Glück war es ein Kinderhotel“, sagt Melanie. „Da hat sich niemand daran gestört, dass wir so oft neue Bettwäsche brauchten.“
,,All in one''-Windeln
Es ist mehr Arbeit, das gibt Melanie zu. Aber sie hat auch da ihre eigenen Lösungen gefunden. Wenn sie mit den Kindern unterwegs ist, zieht sie Aron „All in one“-Windeln an. „Du hast eine Windel an“, sagt sie dann zu ihm. „Du darfst pinkeln.“ Diese Windeln bestehen aus einer wasserdichten Überhose und einer Saugeinlage, die man zusammen waschen kann. „Wenn nur Pipi drin ist, kann man sie auch ein paarmal trocknen lassen, ohne sie zu waschen“, sagt Melanie. „Das riecht bei Babys noch nicht.“
Aron hat während des Gesprächs ruhig auf Melanies Arm gelegen, jetzt fängt er an, sich zu winden und ein bisschen zu meckern. Melanie schaut ihren Sohn an. „Ah, dieses Knurren kenne ich. Musst du mal?“ Sie klemmt sich den blauen Topf zwischen die Beine und setzt Aron darauf, den Rücken an ihre Brust gelehnt. „Pschschschschscht“, zischt sie an seinem kleinen Ohr. Aber Aron zappelt und schimpft weiter. „Willst du trinken?“ Melanie legt Aron für ein paar Schlucke an die Brust. Als er die Brustwarze wieder loslässt, holt sie noch einmal das Töpfchen. Dieses Mal pinkelt Aron – und sieht dabei tatsächlich ganz zufrieden aus.
Flexibel bleiben, die Signale ändern sich wieder!
Hat Aron Melanie jetzt bewusst angezeigt, dass er eine volle Blase hat? „Nein“, sagt Melanie. „Die Kunst bei der Windelfrei-Methode ist, zu erkennen, welches Verhalten das Baby zeigt, kurz bevor es pinkelt.“ Sie grinst. „Und flexibel zu bleiben: Immer wenn du ein Signal kennst, ändert es sich nämlich wieder!“ Als ich mich später von den beiden verabschiede, liegt Aron in einer Stoffwippe, die von der Decke hängt. Melanie hat ihn hineingelegt und ein paarmal wippen lassen, dann schlief er schon. Mitten im Wohnzimmer, ohne großes Tamtam.
Auf dem Weg zurück in die Redaktion denke ich nach. Ich würde auch heute wieder zur Wegwerfwindel greifen. Ich bin einfach zu ungeduldig und zu gern unterwegs, um mit Eimerchen und Stoffeinlagen zu hantieren. Aber eines kann man sich von Melanie abschauen, finde ich. Und zwar, mehr auf die Signale des Kindes zu achten als auf das, was andere sagen oder tun. Um dann eigene Entscheidungen zu treffen.