Bis zu dem Tag, an dem mein erstes Kind auf die Welt kam, wusste ich ganz genau, wie’s läuft. Nämlich so: Ich würde eine dieser coolen Mütter werden, die ihr Baby ganz selbstverständlich in ihr Leben integrieren, es zum Brunch am Morgen und zur Party am Abend mitnehmen. Ich stellte mir vor, wie ich meine Kleine an der Elbe entlangschieben und ihr von Ideen für Artikel erzählen würde, und wie sie mich dabei still mit großen Augen anschauen würde. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie doch einmal weinen sollte, würde sie sich in meiner Gegenwart wie von selbst beruhigen. Ich war schließlich ihre Mutter, und meine Stimme und mein Geruch waren ihr vertraut.
Kaum war sie da, lief nichts mehr wie gedacht. An der Elbe schleppte ich mich stillend von Parkbank zu Parkbank, weil sie sich meist nur an meinem Busen trösten ließ. In fremder Umgebung schrie sie sich in eine totale Erschöpfung, egal, wie lang ich mit ihr in abgedunkelten Schlafzimmern von Freunden kuschelte, während diese nebenan feierten. "Entspannte Eltern haben auch entspannte Kinder", hörte ich Leute sagen, das saß. Mein Kind war tiefenunentspannt, und ich war selbst daran schuld.
Easy Baby
Wie gut der Start ins Elternleben gelingt, ob wir uns unterstützt und geborgen fühlen oder überfordert und einsam, hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Welche das sind und wie wichtig jeder einzelne ist, hat das Meinungsforschungsinstitut Kantar im Auftrag des Lebensmittelkonzerns Nestlé ermittelt und für den aktuellen "Parenting Index" in 16 Ländern der Welt 8000 Eltern von Kindern im ersten Lebensjahr befragt. Manches ist von Land zu Land sehr unterschiedlich, ob gesetzlich oder kulturell. Etwa die Frage nach bezahltem Elternurlaub oder Kündigungsschutz, oder wie sehr sich Väter und Mütter die gemeinsame Verantwortung teilen.
Bei anderen Faktoren sollte man meinen, dass Grenzen keine Rolle spielen: Egal wo auf der Welt, es ist einfach Zufall und Biologie, ob man ein robustes Anfängerbaby abbekommt oder ein reizbares Sensibelchen. Klammert man Kinder mit schweren Gesundheitsproblemen aus, die schon deshalb deutlich mehr Zuwendung brauchen, dann unterscheiden sich die Einschätzungen weltweit auch nicht so sehr. So sagen 71 Prozent aller Mütter und Väter, dass ihre Babys gute Schläfer sind, unabhängig davon, ob die Befragten im ländlichen Rumänien lebten oder in einer südamerikanischen Großstadt. Und drei Viertel aller Eltern finden, dass ihr Baby ein gesundes Ess- und Trinkverhalten zeigt.
Allerdings zeigt sich schon bei der zweiten Frage: Die Antwort darauf hat nur zum Teil damit zu tun, ob ein Kind objektiv gedeiht. Die eigenen Erwartungen sind nicht minder wichtig. Abweichend vom Durchschnitt sagt in China jeder zweite Elternteil: Das mit der Ernährung ist ein echtes Problem. Dabei haben Babys zwischen Beijing und Kunming vermutlich auch nicht mehr Verdauungsschwierigkeiten als Gleichaltrige anderswo auf dem Globus. Also sind die Sorgen wohl eher die Folge eines unrealistischen Ideals. "Eltern in China setzen sich enorm unter Druck, Kinderhaben ist dort sozial hoch erwünscht. Aber egal, was man tut, jeder Säugling ist einmal unruhig, weint oder isst schlecht. Daraus ziehen sie eher den Schluss, ihr Kind sei besonders schwierig", schreiben die Forscherinnen und Forscher.
In Zahlen ausgedrückt: Auf einer Skala von eins (mein Kind ist sehr pflegeintensiv) bis zehn (ich habe ein pflegeleichtes Buddha-Baby) ordnen chinesische Eltern ihre Kinder bei 1,9 ein und landen damit im internationalen Vergleich auf dem letzten Platz. Im südlichen Nachbarland, auf den Philippinen, ist es ähnlich: "Es gilt als erstrebenswert, ein gesundes, glückliches, unabhängiges Kind zu haben, das nicht viel Unterstützung braucht", so beschreibt das Forscherteam das kulturelle Ideal im asiatischen Inselstaat. Denn leistungsfähige Kinder haben später gute Karten für ein besseres Leben als die Elterngeneration, die häufig schon für Grundlegendes wie Essen und Wohnraum schwer schuften muss. Klar, dass es Sorgen bereitet, wenn sich das eigene Baby als weniger robust entpuppt.
Doch nicht alle Eltern aus ärmeren Weltregionen empfinden ihre Kinder als besonders mühsam, das wäre zu einfach gedacht. Das Gegenbeispiel ist Nigeria, auf Rang drei im Ländervergleich. Ein Staat, in dem 92 Prozent der Bevölkerung weniger als 5,50 Dollar pro Tag und Kopf zum Leben zur Verfügung haben. Aber die innere Haltung ist eine andere, so die Erklärung der Studie: "Eine Familie zu haben gilt in vielen afrikanischen Ländern als höchste Priorität im Leben, und Kinder werden als Segen betrachtet. Deshalb werden Babys auch nicht als schwierig empfunden." Eine Frage der eigenen Bewertung. Wahrscheinlich sind auch Eltern in Lagos nach einer schlaflosen Nacht mit einem unruhigen Kind gerädert – aber hey, so ist das Leben! Deutsche Eltern liegen bei der Frage nach pflegeleichten Babys im oberen Mittelfeld, bei 7,5 Punkten.
Easy Parents
Eng verknüpft mit der Frage, wie man das eigene Kind einschätzt, ist das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten: Sind wir in der Lage, unser Baby zu beruhigen, können wir seine Signale richtig deuten? Und unabhängig vom Temperament des Kindes: Haben wir den Eindruck, wir wissen genau, was wir tun? Oder lassen wir uns in unseren Entscheidungen zum Stillen, zum Schlafen, zu Impfungen oder zur Wickelmethode verunsichern von verschiedenen Ratschlägen im Freundeskreis, von der eigenen Familie, durch Social-Media-Trends?
Hier lassen sich aus den Zahlen des "Parenting Index" zwei interessante Erkenntnisse herauslesen. Zum einen: Eltern rund um die Welt sind sich ihrer Sache meist ziemlich sicher. 80 Prozent geben an, dass ihre Rolle sie erfüllt, fast drei Viertel sagen: Ja, uns geht es gut, körperlich wie seelisch, wir fühlen uns der Aufgabe gewachsen.
Zum anderen: Je traditioneller die Gesellschaft, desto geringer die Selbstzweifel. Das gilt besonders für Frauen in Kulturen, in denen Mutterschaft unhinterfragt als die schönste Rolle im Leben gilt. Nigeria, die Philippinen … In Chile gehen zwar zunehmend mehr Mütter bezahlter Arbeit nach, setzen aber dabei klar Prioritäten. Geldverdienen muss sein, ist aber kein wichtiger Teil des eigenen Selbstbildes, der eigenen Selbstdefinition. Das sind die Kinder, und sie kommen immer an erster Stelle.
Einerseits beneidenswert – wer würde nicht gern ohne Selbstzweifel und Zerrissenheit durchs Elternleben gleiten? Andererseits ist es auch ein Zeichen gesellschaftlichen Fortschritts, wenn Lebensentwürfe hinterfragt werden, wenn Mütter sich nicht (nur) über Kinder definieren und Väter nicht (nur) über ihren Job. Aber dafür bezahlen wir auch einen Preis, nämlich Verunsicherung.
Wenig verwunderlich, dass große Industrienationen bei der Frage nach dem elterlichen Selbstbewusstsein weiter hinten landen: Deutschland knapp unter dem Durchschnitt, am untersten Ende Großbritannien und Schweden. Dabei gehört Schweden bei allen anderen Faktoren der Studie zu den Champions. Aber gerade, weil die Rahmenbedingungen im Norden so ideal sind, neigen Eltern dazu, sich selbst besonders kritisch zu sehen: Wenn ich in einer perfekten Welt keine perfekte Mutter und kein perfekter Vater sein kann, dann stimmt wohl etwas nicht mit mir. Dazu kommt, dass Schweden zu den Social-Media-freudigsten Völkern der Welt gehören. Gegen Insta-Moms, die neben einem Job als Menschenrechtsanwältin stundenlang perfekt gestylt in skandinavisch designten, aufgeräumten Kinderzimmern mit glücklichen Blondschöpfen spielen, kann man eigentlich nur verlieren.
Was aus meiner Tochter geworden ist, dem nervösen Baby mit dem großen Hunger? Nun: Ihre Abneigung gegen zu viel Lärm, unbekannte Menschen und Unruhe hat sie bis heute behalten, ihre Vorliebe für häufige Zwischenmahlzeiten auch. Und ich habe in den letzten 15 Jahren viel Zeit gehabt, sie besser kennenzulernen. Einen wunderbaren, komplexen Menschen, mit ungewöhnlichen Interessen und dem Mut, für sich einzustehen. Mütterliche Selbstzweifel? Na klar, aber damit bin ich nicht allein. Manches habe ich mir anders vorgestellt, aber unsere Kinder sind kein Wunschkonzert, sondern eine Einladung, sich immer wieder selbst zu hinterfragen. Und manchmal, da schaue ich sie mir an, beim Spaziergang an der Elbe oder bei einem Fest im Freundeskreis, und denke: Da haben wir einiges ganz schön gut gemacht.