Über den beiden Inselstaaten brauen sich dunkle Wolken zusammen. Der König der grünen Insel hat die Regeln gebrochen: Er ist – ohne Anmeldung – einmal quer durch fremdes Hoheitsgebiet gelatscht und hat dabei alle Schleich-Tiere der Königin von der blauen Insel umgeschmissen. Die ist not amused, sie kündigt an, nicht länger mitzuspielen. Jedenfalls nicht so.
"Geh bitte zurück", sagt sie mit Nachdruck. Der grüne König stampft mit dem Fuß, sagt ein schlimmes Wort und wirft sogar seine Krone auf den Boden. Er heißt David (Name geändert) und ist drei Jahre alt – seine Insel ist eine grün gemusterte Wolldecke, die er auf dem Boden seines Zimmers ausgebreitet hat. Die Königin sitzt ganz ruhig auf ihrem blauen Badelaken und wartet, bis der Sturm sich legt und man zu Verhandlungen übergehen kann. Sie heißt Andrea Hörchner und ist von Beruf Systemische Familientherapeutin.
Familien stellen ihre Konflikte auf, um in diesem System eine Lösung dafür zu entdecken – davon hört man immer öfter. Für viele klingt das nach Eso-Quatsch, andere fürchten sich, weil es angeblich wirken soll. Muss man verstehen, was Systemische Therapie bedeutet – oder ist der Hype schon wieder vorbei?
Tatsächlich sind alle Konflikte, die wir in der Familie (oder auch sonst) erleben, systemische Konflikte. Das heißt, sie entstehen durch das Zusammenwirken aller Beteiligten. Es ist nicht eine die Täterin und der andere das Opfer. Wenn man die Beziehungen zwischen Konfliktpartnern mal in 3D durchspielt – wie beim Insel-Spiel mit menschlichen Stellvertretern und Schleichtieren – werden Zusammenhänge und Lösungsansätze sichtbar, die sonst außerhalb unseres Blickfeldes liegen, im toten Winkel sozusagen. Im besten Falle gelingt es in der systemischen Therapie, die Themen der Kinder aufzuarbeiten.
David lernt, die Grenzen anderer zu respektieren
Wenn sich heute viele Therapeuten den Begriff "systemisch" auf die Flagge schreiben, dann bedeutet dies unter anderem auch, dass Erwachsene sich auf das besinnen, was kleine Kinder schon immer gemacht haben: Sie spielen gemeinsam. Und zwar nach einem persönlichen Drehbuch, das sie bestens aus ihrer Familie, vielleicht aus der Kita kennen. Sie verarbeiten so, was sie täglich erleben.
Auch der dreijährige David hat seine Gründe dafür, dass er sich nicht an die Besucher-Regel hält und lieber unerlaubt eine fremde Grenze überschreitet. Obwohl, oder gerade weil, es dann Ärger gibt.
David ist bei Andrea Hörchner in Therapie, um Schritt für Schritt zu lernen, dass es auch anders geht. "Kinder fühlen sich ohnmächtig, wenn es ihren Eltern wegen eigener Themen nicht gelingt, auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen", erklärt Hörchner. "Innerhalb der Familie können sie kein Gefühl für Selbstwirksamkeit entwickeln."
Und Kinder, die auf normalem Wege nichts bewirken können, retten sich, indem sie anderweitig versuchen, Kontrolle über die Situation zu erlangen: mit Schreien, mit Kraftausdrücken und manchmal mit Gewalt gegen sich selbst oder andere. Auch Davids Eltern sind in Therapie bei Hörchner: "Die ganze Familie darf – nachträglich – lernen, wie man sich feinfühlig verhält, Grenzen respektiert. Es ist entscheidend, dass die Eltern mit ins Boot genommen werden, damit sich tatsächlich etwas verändert." Es geht eben ums ganze System.
Hörchner erklärt das auch an einem anderen Beispiel: "Ich erlebe Mütter, die ihre Kinder nacheinander in drei verschiedenen Kitas anmelden und der festen Meinung sind: 'Da stimmt was nicht, die Einrichtung arbeitet nicht gut, mein Kind will bei der Eingewöhnung nicht bleiben.‘" Was sie dabei nicht erkennen könnten, sei, dass ein eigenes, unverarbeitetes Trennungsthema wirkt. "Und ein Kind kann seine Eltern lesen. Es spürt, dass die Mama nicht loslassen kann – und reagiert entsprechend."
Die Therapeutin schaut sich immer das ganze Familiensystem an
Aber wie kommen die kleinen Klienten überhaupt zur Therapeutin? Einfach einen Termin ausmachen, das können sie schließlich noch nicht. "Bei Kindern ist es eben so, dass erst mal jemandem – den Eltern oder den Erzieherinnen – auffallen muss, dass sie sich ungewöhnlich verhalten", sagt Andrea Hörchner.
Vor Kurzem habe sie selbst wieder so ein Erlebnis gehabt, sie war zu Besuch in einer Kita, in der sie die Erzieherinnen berät: "Ein Junge hat sofort Körperkontakt gesucht, obwohl er mich gar nicht kannte." Ungewöhnlich für einen Zweijährigen, findet sie: "Das könnte so ein Signal sein, dem das Personal Beachtung schenken muss." Aber kann der Kleine nicht auch einfach ein Kuschelkind sein? Sieht man da nicht schnell Gespenster?
Vom Kinder- und Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch, dessen Forschungsgebiet die frühe Eltern-Kind-Bindung ist, stammen die folgenden Zahlen: Von 100 Kindern in Deutschland hätten etwa 60 eine sichere Bindung, 30 eine unsichere Bindung und acht bis zehn eine desorganisierte Bindung, sie zeigten also ein Verhalten, das Brisch bereits als pathologisch einstuft. Etwa 20 Prozent der deutschen Grundschulkinder sind laut Brisch so verhaltensauffällig, dass sie eine Therapie bräuchten.
Bevor Andrea Hörchner anfing, mit David zu spielen, hat sie gemeinsam mit seinen Eltern ein Genogramm angelegt. "Das kann man sich vorstellen wie eine Art Stammbaum, in den alle Beziehungen des Kindes eingetragen werden."
Wer gehört zum System? Außer den Eltern auch die Geschwister. Selbst wenn die bereits verstorben sind, eventuell bei einer Fehlgeburt, bekommen sie ihren Platz, denn selbstverständlich kann der Verlust noch in der Familie nachwirken. Hinzu kommen weitere Verwandte wie Großeltern, Tanten, Urgroßeltern und andere wichtige Personen.
Auch die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander werden ins Genogramm eingetragen. Leben die Eltern getrennt? Gibt es innerhalb der Paar-Beziehung oft Streit? Sind Süchte im Spiel? Oder zeigen Mitglieder des Systems Verhaltensweisen, die beispielsweise eine Folge von Krieg, Flucht oder anderen traumatischen Erlebnissen sind? Welche Bindungstypen sind vertreten?
Die Therapeutin verschafft sich einen Überblick, stellt Hypothesen auf und versucht, über systemische Fragen mit den Eltern gemeinsam Erkenntnisse zu gewinnen. "Die Eltern sind oft bereits bei mir in Paartherapie, bevor wir auf die Kinder zu sprechen kommen." Und dann? "Wenn sie bereit sind, die Therapie im Alltag aktiv zu unterstützen, fange ich an, mit den Kindern selbst zu arbeiten." Dazu besucht Hörchner sie zu Hause, in ihrer gewohnten Umgebung: "Eine gute Beziehung zu allen aufzubauen und zu halten ist zentral. Den Kindern werde ich dann einfach als 'die Andrea‘ vorgestellt, ganz unkompliziert."
Kinder akzeptieren die Handpuppe als neutrale Figur
Aber wie einfach ist es tatsächlich, Kontakt zu einem fremden Kind herzustellen? Berufserfahrung hilft hier, klar. Um als Erwachsene eine gute Verbindung – im Fachjargon "einen Rapport“ – zu kleinen Klienten aufzubauen, empfiehlt Andrea Hörchner außerdem einen Trick, den auch Eltern und Erzieher für sich nutzen können: Sie bringt zur Therapiesitzung eine lustige Handpuppe mit. Wie ein Mediator sorgt die Puppe für einen "Spielraum", in dem man offener Gefühle zeigen, lachen und weinen kann, als das vielleicht sonst möglich wäre. "Die Handpuppe wird von Kindern als neutrale Figur akzeptiert – das Tier spricht über die Gefühle des Kindes, übersetzt seine Bedürfnisse und auch Sorgen – ein Zwiegespräch der Wertschätzung und Anerkennung entsteht. Das Kind fühlt sich sicher und verstanden." Das könne gerade in Konfliktsituationen die Beziehung sehr entspannen.
Im Alltag haben Erwachsene meist wenig Spielraum, dafür tragen sie umso mehr Verantwortung. Sie wollen sicher das Beste für ihre Kinder, sind aber manchmal emotional nur schwer erreichbar, zum Beispiel, wenn sie selbst gerade viel um die Ohren haben. So kommt es immer wieder zu typischen Reizen und Reaktionen: Das Kind wirft absichtlich den Becher herunter – der Vater schimpft. Ein automatisierter Ablauf, den Andrea Hörchner im therapeutischen Spielraum hinterfragt: "Ich möchte herausfinden, was der gute Grund für das fortlaufend unerwünschte Verhalten eines Kindes ist. Will es gesehen werden? Und vor allem: Wie geht es ihm eigentlich selbst dabei?"
Kinder ab dem Kindergartenalter lassen Puppen oder Playmo-Figuren auch Gespräche führen, aus denen man heraushören kann, in welchem Tonfall sie mit sich selbst reden. "Ein Mädchen hat dabei die Rolle der strengen Trainerin vom Ponyhof übernommen. Meine Figur, eine junge Reiterin, die nicht genug geleistet hat, wurde von ihr beschimpft." Hörchner habe – in der Position des vermeintlich schwachen Kindes – dann sehr geweint. "Das hat das Mädchen aber gar nicht berührt, im Gegenteil, sie ist nur noch strenger geworden." Für Hörchner ist das, ergänzend zu den Beratungsgesprächen mit den Eltern, ein Hinweis, dass das Mädchen in ihrer Familie zu wenig beachtet wird. Ihre guten Leistungen dafür aber schon. "Im Spiel kann ich alternative Verhaltensweisen anbieten und dem Kind ermöglichen, auch mal Schwäche zu zeigen, unterdrückte Gefühle zuzulassen." Denn das ist es, worum es in der Therapie letztendlich geht: angenommen zu werden, so wie man eben ist, mit allen Stärken und Schwächen.
Das Gefühlsbarometer räumt Missverständnisse aus
Selbst wenn wir einen gesunden und distanzierten Blick auf andere Familien haben – unser eigenes System durchschauen wir in der Regel nicht so leicht. Blinde Flecken zu haben ist völlig normal, aber es kann natürlich wehtun, wenn unsere Kinder uns darauf hinweisen. Deshalb ist es durchaus ein Therapieerfolg, wenn Eltern ein Gefühl für die Stimmungen und Abläufe innerhalb der Familie entwickeln, verstehen, was wirklich los ist.
Damit es da gleich mal ein paar Missverständnisse weniger gibt, malt Andrea Hörchner Gesichter mit den Kindern: wütende rote Fratzen. Oder welche mit riesigen Augen, aus denen meerblaue Tränen kullern. Andere haben breite Grinsemünder. "Daraus basteln wir dann gemeinsam eine bunte Drehscheibe, ein Gefühlsbarometer, die dem Rest der Familie zeigt, was gerade Sache ist." Und wenn Mama oder der große Bruder schon vorgewarnt ist, "Vorsicht, dicke Luft!", muss sie oder er die vorübergehende Laune gar nicht so persönlich nehmen. Eltern haben dann die Möglichkeit, statt reflexartig zu reagieren, ihrem Kind den Freiraum oder die Nähe zu schenken, die es im Moment tatsächlich braucht.
Und was lässt sich für die Zukunft mitnehmen? "Eltern können gemeinsam mit dem Kind lernen, dass starke Gefühle nicht gefährlich, sondern dass alle Gefühle in Ordnung sind", sagt Andrea Hörchner. Und: Einen angemessenen Umgang mit unseren negativen Gefühlen kann jedes Kind lernen, auch über das Vorbild der Eltern.
Konflikte
Gucken, wo’s hakt
Systemische Therapeuten arbeiten auch mit dem Familienbrett – ein Blanko-Spielbrett mit kegelförmigen Figuren. Man kann so gemeinsam "von oben" auf die Beziehungen in der Familie sehen und mittels systemischer Fragen miteinander ins Gespräch kommen. Das Brett bietet eine wertvolle Chance zu erkennen, wie man sich die Beziehungen untereinander wünscht – und wie sie aktuell erlebt werden.
Andrea Hörchner
Die Systemische Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapeutin ist Mutter von zwei Kindern. Sie lebt und arbeitet in Nürnberg. Mehr unter www.systemische-beratung-supervision.de.
Zum Weiterlesen
Für Eltern:
- "Familienkonferenz" von Thomas Gordon, Heyne, 11,99 Euro
Für Kinder:
- "Ein Rucksack voller Glück" von Julia Volmert und Elke Broska, Este, 4,95 Euro
- "Das große und das kleine NEIN" von Gisela Braun und Dorothee Wolters, Verlag an der Ruhr, 14 Euro
- "Wenn ich wütend bin" von Nanna Neßhöver und Eleanor Sommer, Carlsen, 13 Euro