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Famillien in Europa Familienleben in Frankreich

Wir haben unsere Nachbarn in Europa besucht und ihre Alltag beobachtet. Wir sieht das Familienleben einer französischen Familie aus? Womit haben italienische Eltern täglich zu tun? Unsere Serie erzählt es Ihnen! Zum Auftakt, ein Besuch bei Familie Lamy in Frankreich.

Für "Rabenmutter" gibt es keinen Begriff

Wenn Christelle oder Mickael Lamy mit ihren Kindern Maxime, 9, Alice, 7, und Julie, 2, zur Vorsorgeuntersuchung gehen, stellt der Kinderarzt immer auch die Frage, wie und von wem die Kinder tagsüber betreut werden. Er fragt das routinemäßig und schon seit Babytagen – dass fast die Hälfte seiner kleinen Patienten unter zwei Jahre eine Krippe besucht oder bei einer Tagemutter untergebracht ist, dass die Älteren in Ganztagskindergarten oder Ganztagsschule gehen, ist für ihn selbstverständlich.

Frankreich ist nicht unbedingt das Land der "mres poules", wie unsere Nachbarn leicht spöttisch nicht berufstätige Mütter nennen, die mit ihren Küken daheim im Gluckennest sitzen. Französische Frauen bekommen zwar europaweit mit zwei Kindern die meisten Kinder, sind aber auch beim Anteil weiblicher Berufstätiger Spitze. Kein Widerspruch, sondern lange Tradition in der Grand Nation, die übrigens keine Übersetzung für das Wort "Rabenmutter" kennt.
 

Dreijährige besuchen die "mütterliche Schule"

Famillien in Europa: Familienleben in Frankreich
© Bethel Fath

Über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird hier nicht gestritten, gegrübelt, diskutiert, sie wird einfach praktiziert. Quer durch die Schichten und Parteien gilt es als Normalfall, dass Kinder anders betreut werden als von der eigenen Mutter. Spätestens ab drei sitzt kaum noch ein kleiner Lyonais oder eine Mini- Pariserin mittags mit Mama am Tisch: 99 Prozent der Dreijährigen besuchen eine "cole maternelle", eine kostenlose Ganztagsschule, in der nur das Mittagessen von den Eltern bezahlt wird. Die Vorschulen – die, übersetzt man ihren Namen direkt, "mütterliche Schulen" heißen – sind seit Ende des 19. Jahrhunderts fester Bestandteil der Kleinkindausbildung. Zu Beginn der Industrialisierung sicherte nur die Berufstätigkeit beider Elternteile das Überleben der Familie, die katholische Kirche übernahm in neu gegründeten Kleinkinderschulen die Betreuung des Nachwuchses. Im Land der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unterstützte die Politik die Förderung der Arbeiterklassen-Sprösslinge und machte die "kleinen Schulen" bald zum Bestandteil des staatlichen Schulsystems.

Seitdem gehört der Schultag für Dreijährige zu den festen Größen im Familienleben, auch nicht berufstätige Mutter lassen ihre Kinder in diesem Alter nicht mehr zu Hause. Mit einem deutschen Kindergarten haben die Vorschulen nichts zu tun: Die Dreijährigen werden bereits frontal unterrichtet, es gibt einen Stundenplan, Ordnung und Disziplin sind sehr wichtig. Bevor sie alt genug sind für die "cole maternelle", sind kleine Franzosen in der "crche", der Krippe, untergebracht, Plätze gibt es für etwa ein Drittel der unter Dreijährigen. Kann eine Familie es sich leisten, engagiert sie eine Nounou, die französische Nanny, die ins Haus kommt. Andere Eltern teilen sich eine Tagesmutter, ein Modell, das der Staat durch Zuschüsse fördert.
 

Vertrag zwischen Müttern und Staat

Famillien in Europa: Familienleben in Frankreich
© Bethel Fath

Besonders im kostspieligen Großraum Paris, aber auch in anderen städtischen Gebieten, ist die ganztägig arbeitende Doppelverdienerfamilie Standard. Dass vom Gehalt genug übrig bleibt, ist politisch gewollt: Alle Kinderbetreuungskosten sind steuerlich absetzbar. Französische Mütter sind traditionell berufstätig – zu einer wirklichen familiären Gleichberechtigung hat das aber nicht geführt, sagen Expertinnen. "Die Zuständigkeit der Frauen für Kinder bleibt unbestritten", bilanziert die Soziologin Kerstin Ruckdeschel vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung: "Die sozialpolitischen Regelungen führen nicht zu einer Gleichstellung von Männern und Frauen, sondern stellen, polemisch ausgedrückt, eine Art Vertrag zwischen Staat und Müttern zur Entlastung der Väter dar."

Elisabeth Badinter, Soziologin und streitbare Feministin seit den wilden Sechzigern, legt den Finger in diese Wunde. Ihr aktuelles Buch heißt "Der Konflikt. Die Frau und die Mutter" und sorgte für Zündstoff unter Frankreichs Müttern: "Die süße Tyrannei der Mütterlichkeit" beklagt die Soziologin darin und den zunehmenden Drang junger Mütter, die Bedürfnisse des Babys in den Mittelpunkt zu rücken. Tatsächlich tut sich was in französischen Familien: Junge, ökologisch denkende Mütter verwenden mehr Zeit aufs Kind, sie stillen länger, kochen Biobrei selbst, waschen Windeln, statt sie wegzuwerfen. Ein Trend, der nach Badinters Ansicht die Unabhängigkeit, die Frauen sich mühsam erkämpft haben, bedroht.

Die "neuen Mütter" keilen zurück: "Ich werde mich nicht um die Freiheit des Stillens bringen, nur weil Madame Badinter das reaktionär finden könnte", sagt Nathalie Kosciusko-Morizet, Chefin der französischen Grünen, frühere Umweltministerin und Mutter zweier Kinder. Eine Parteikollegin regt sich auf: "Ich bin doch keine Schimpansin, nur weil ich mein Baby stille!" Das Kind und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt – für die traditionelle französische Erziehung ist das tatsächlich ungewohnt. Die Vorstellung, dass Eltern zugunsten ihrer Kinder zurückstecken, hat keine Tradition, der Entfaltungswunsch der Erwachsenen galt immer als vorrangig und selbstverständlich.

Kinder müssen Spielregeln der Erwachsenen akzeptieren

Und wenn der Nachwuchs rebelliert? Dann kann es schon mal einen Klaps auf den Po geben. Der französische Staat erlaubt Eltern die körperliche Strafe, laut einer Studie der Europäischen Familienunion (UFE) möchte die Hälfte der Franzosen diese gesetzliche Regelung beibehalten. "Das ist auch gut so", sagt die Soziologin Isabelle Bourgois vom deutschfranzösischen Forschungsinstitut der Universität Cergy-Pontoise nahe Paris, "die Erziehung bei uns ist nicht so soft wie in Deutschland."

Wegen der Berufstätigkeit beider Eltern müssten, so die Wissenschaftlerin, Kinder sich von klein auf in die Gesellschaft einfügen: "Die Kleinen sind keine halben Erwachsenen, denen man alles zu erklären versucht. Die Kinder werden mit dem Klaps auf den Po dazu gebracht, die Spielregeln zu akzeptieren." Die Bewertung dieser Erziehung kann so oder so ausfallen: "Französische Kinder gehorchen gut", fasst Bourgois ihre Forschungsergebnisse zusammen. Die Lehrer-Selbsthilfe- Organisation Fdration Autonome de Solidarit (FAS) beklagt besonders für den großstädtischen Raum eine zunehmende Gewaltbereitschaft von Schülern – und macht dafür auch das elterliche Vorbild verantwortlich.

Zahlen und Fakten

Französinnen liegen in der Geburtsstatistik vorn. Im Durchschnitt bekommen sie zwei Kinder. Viele Frauen werden spät Mutter: Die höchste Geburtenrate haben 30- bis 35-Jährige, von ihnen sind es vor allem die gut ausgebildeten, überdurchschnittlich Verdienenden, die Babys bekommen. Sie sagen auch Ja zum Nachwuchs, weil sie keine Angst vor einem Karriereknick haben: 62 Prozent der Französinnen denken, dass Einjährige gut außerhalb der Familie betreut werden können, von den deutschen Frauen meinen das 22 Prozent. Zahlen, die sich im Alltag niederschlagen: 65 Prozent der französischen Mütter mit Kindern unter sechs arbeiten Vollzeit. Zum Vergleich: Von dieser Müttergruppe sind hier 62 Prozent in Teilzeit beschäftigt. Die französische Steuerpolitik begünstigt Familien: Als Resultat des „quotient familial“, der von der Kinderzahl abhängt, zahlt nur die Hälfte aller französischen Haushalte Lohn- oder Einkommensteuer, ab dem dritten Kind bleiben Eltern mit Durchschnittseinkommen de facto steuerfrei. Kindergeld gibt es auch: 120 Euro (gerundet) ab dem zweiten Kind, 275 für drei, 430 für vier und 580 bei bis zu fünf Kindern.

Fortsetzung der Serie "Global family"

Lesen Sie hier, wie eine Familie aus Turin sich mit den widrigen Umständen in Italien arrangiert.
 

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