Keine Beziehung ohne Verletzung

Täglich werden wir gekränkt, brüskiert, bloßgestellt. Im Büro, in der Partnerschaft, im Freundeskreis. Weil wir Menschen sind und Menschen Fehler machen. Wir sagen unbedachte Dinge, stehen unter Stress,manchmal wollen wir sogar verletzen. Und der andere steht da, vor den Kopf gestoßen, in seinem Selbstwert erschüttert, und fragt sich: Will ich das verzeihen? Kann ich das? Gut, den vergessenen Hochzeitstag legt man nach einer reuigen Entschuldigung gerade noch ad acta. Vielleicht auch, dass der Zoobesuch ausfällt, weil dem Gatten das Kaffeetrinken mit der Mutter wichtiger ist als der Sonntagsausflug mit der Familie. Wir würden ein bisschen schmollen und maulen, uns selbst Leid tun und den anderen Besserung geloben lassen. Aber wie sieht es aus mit Lügen und Unaufrichtigkeiten? Mit einer Ohrfeige, die man im Streit kassiert? Mit einem Seitensprung? "Natürlich gibt es Dinge, die unverzeihlich sind", sagt Dr. Peter Dogs, ärztlicher Leiter der Panorama-Klinik in Scheidegg im Allgäu. Andauernde Gewalt und Missbrauch gehören nach Meinung des Psychotherapeuten dazu. In solchen Fällen ist große Wut und die Einstellung "Das verzeihe ich dir nie!" durchaus angebracht. "Ansonsten hat jeder Mensch sein eigenes Koordinatensystem. Der eine fühlt sich unverzeihlich verletzt, wenn der Partner eine Verabredung vergisst, der andere kann auch einen Seitensprung wegstecken."
Verzeihen – für den eigenen Seelenfrieden
Vielen Menschen fällt das Verzeihen schwer. "Sie meinen, sie würden mit dem Verzeihen auch die erfahrene Kränkung verharmlosen", weiß die Theologin und Psychologin Dr. Beate Weingardt, die über das Thema "Verzeihen" promoviert hat. Dabei sei das gar nicht der Fall: "Die Kränkung bleibt natürlich bestehen, aber wir hören auf, sie übel zu nehmen." Mit unserem menschlichen Sinn nach Gerechtigkeit ist das schwer vereinbar. Wir haben das Bedürfnis nach Ausgleich, manchmal sogar nach Rache, wenigstens aber nach einer Entschuldigung. Nur: Wir haben keinen Anspruch darauf. Dr.Weingardt: "Es ist schön, wenn der Kränkende erkennt, dass er dem anderen wehgetan hat. Aber wir können eine Entschuldigung nicht fordern." Manche Menschen warten jahrelang auf sie, grollen, schmollen, vergiften sich dadurch kostbare Lebenszeit - und bestrafen sich letztlich damit nur selbst.
Schmollen macht krank
Viele wissenschaftliche Studien, vor allem aus den USA, belegen, dass Nicht-Verzeihen die Menschen krank macht. Wer nachtragend ist, leidet viel häufiger an körperlichen Stress-Symptomen wie Bluthochdruck, Magen-Darm-Problemen und Schlafstörungen. Schließlich ist es ziemlich anstrengend, sich gedanklich und gefühlsmäßig ganz auf ein negatives Ereignis zu konzentrieren. Eine Studie fand sogar heraus, dass Verzeihen chronische Rückenschmerzen und Depressionen lindern kann. Auch aufs Übergewicht wirkt sich das Verzeihen offenbar günstig aus: 44 italienische Ehefrauen, alle ziemlich dick, nahmen ab, nachdem sie gelernt hatten, ihren Männern all die Kränkungen zu verzeihen, die sie ihnen angetan hatten.
Erst verstehen, dann verzeihen
Zu schnelles und zu oberflächliches Verzeihen verfehlt allerdings häufig den positiven Effekt. "Viele Menschen sagen zwar, sie würden ihrem Partner eine Verletzung verzeihen, aber tief im Inneren gärt es weiter", so die Erfahrung von Dr. Peter Dogs. In solchen Fällen entlastet das Verzeihen nicht, sondern richtet ein nur noch größeres Beziehungschaos an. "Deswegen ist es so wichtig, dass vor dem Verzeihen das Verstehen des Problems steht", erklärt der Psychotherapeut. Warum hat der- oder diejenige das zu mir gesagt? Hat er oder sie es böse gemeint? Warum hat mich das so verletzt? Was ist mein eigener Anteil an diesem Streit? "In Beziehungen wird viel zu wenig geredet", stellt Peter Dogs fest. "Aus Angst, den anderen zu verlieren, werden Kränkungen hingenommen, die man eigentlich nicht hinnehmen will." Ein großer Krach, in dem beide ihre Position deutlich machen, Grenzen setzen und Erwartungen äußern, sei häufig die bessere Lösung. "Danach kommt das Verzeihen meist von allein,weil man den anderen plötzlich versteht", so Dr. Dogs. Häufig ist nicht nur der Verletzte, sondern auch der Verletzende mit der Situation überfordert. Zum Beispiel,wenn er nicht versteht, was an seiner Bemerkung oder seinem vermeintlichen Fehlverhalten schlimm gewesen sein soll. Dr. Beate Weingardt erklärt: "Jeder Mensch hat wunde Punkte, an denen er besonders verletzlich ist. Aber das ist für Außenstehende nicht immer nachvollziehbar." Wenn der Partner jedoch um diese Punkte weiß, kann er bei Auseinandersetzungen verständnisvoller reagieren. Ein Beispiel: Das Gefühl, früher weniger Beachtung bekommen zu haben als die Geschwister, kann auch Jahre später noch dafür verantwortlich sein, dass man in bestimmten Situationen besonders empfindlich reagiert, etwa bei einer abgesagten Verabredung. "Plötzlich fühlt man sich wieder klein und wertlos", erklärt Dr.Weingardt. "Dabei hat dieses Gefühl gar nichts mit der aktuellen Situation zu tun."
Verzeihen kann man lernen
Mit der Fähigkeit, verletzbar zu sein, kommen wir auf die Welt, nicht aber mit der Fähigkeit zum Verzeihen. "Für die meisten ist das Verzeihen-Lernen ein mühsamer Prozess, denn kaum jemand bekommt von seinen Eltern vorgelebt, wie man anderen Menschen vergibt", so Dr. Beate Weingardt.Wer bei seinen Eltern nicht sieht, dass Verzeihen kein Eingeständnis von Schwäche und Schuld ist, dem wird es selbst auch schwer fallen, zu verzeihen. Trotzdem kann man das Verzeihen lernen.
1. Ich sehe mich nicht länger als Opfer. Im ersten Gefühlschaos ist das normal: Ich wurde verletzt - und nur das zählt. Ich bin das Opfer, das leidet. Der andere ist der Täter, der mir unrecht getan hat. Aber ist es wirklich so einfach? Gibt es nur Gut und Böse? Vielleicht gelingt es ja, den anderen auch unabhängig von der aktuellen Verletzung zu sehen. Vielleicht kann ich anerkennen, dass er viel Stress im Job hat und deshalb den Geburtstag der Schwiegermutter vergessen hat. Oder dass er mir nicht erzählen will, mit wem er telefoniert hat,weil ihn die ständige Fragerei schon bei seinen Eltern so genervt hat. Und: Auch Menschen, die uns verletzt haben, haben liebenswerte Seiten. Eigentlich mögen wir sie, sonst hätten sie uns nicht so verletzen können. Achtung, Respekt und Sympathie können gute Helfer sein, wenn es ums Verzeihen geht.
2. Ich gebe mir Zeit. Verletzungen, vor allem die großen, verheilen nicht von heute auf morgen. Deshalb darf man sich auch mit dem Verzeihen Zeit lassen. Mit etwas Abstand kann man die Dinge häufig etwas nüchterner betrachten.Was mir heute noch unverzeihlich vorkommt, ist nächsten Monat vielleicht vergessen. Zumindest aber wird das Gefühl der Kränkung mit der Zeit schwächer. Und damit nimmt die Bereitschaft zu, jemandem einen Fehler nachzusehen.
3. Ich suche mir einen unabhängigen Gesprächspartner. Denn der kann im Zweifelsfall besser beurteilen als ich, ob es berechtigt ist, wegen einer zerbrochenen Blumenvase tagelang zu schmollen.Wie schon beschrieben, spielen bei Verletzungen viele unterbewusste Muster ein Rolle - und manchmal reagiert man auch einfach unangemessen auf eine Verletzung. Durch Rückfragen meines Zuhörers (Wie kommst du darauf? Was genau hat er gesagt?) werde ich gezwungen, mehr Klarheit in mein eigenes Denken und Fühlen zu bringen.
4. Ich brauche keine Entschuldigung. Natürlich bereitet uns ein reuiges Schuldbekenntnis Genugtuung. Aber darauf zu warten, kann uns unter Umständen Jahre unseres Lebens kosten. Und damit einiges an Lebensfreude nehmen.Viel besser ist es, ganz unabhängig vom anderen zu entscheiden, ob man verzeihen will oder nicht, und wann es so weit ist. Denn so befreien wir uns aus der Opferhaltung, werden aktiv und nehmen unser Leben selbst in die Hand.
Zum Weiterlesen
Beate Weingardt: Das verzeih ich dir (nie)! Kränkungen überwinden, Beziehungen erneuern, R. Brockhaus, 10,90 Euro Fred Luskin: Die Kunst zu Verzeihen,mvg , 8,90 Euro