Das zehn Monate alte Kind ist, ähnlich wie ein Hefeteig, ein wunderbares, allerdings auch völlig unkalkulierbares Geschöpf. Es bewegt sich, jedoch ohne zu wissen, wohin.
Leider wächst mit der zunehmenden Mobilität des Babys die Einsicht nicht proportional. Mein Sohn freut sich zum Beispiel jeden Tag aufs Neue, dass er nicht nur krabbeln, sondern sich auch an Tischdecken hochziehen, an wackeligen Handtuchständern entlanghangeln und sich seinem Vater wie ein liebestoller Terrier ans Bein klammern kann.
Jetzt beginnt die Phase - und mir wurde von erfahrenen Müttern angedeutet, sie dauert etwa 23 Jahre -, in der man sich zurücksehnt nach der Zeit, als das Kind ein Säugling war und nur herumliegen und schreien konnte. Freilich wusste man diesen Zustand damals nicht zu schätzen, weil man keine Vorstellung hatte, was die Zukunft noch so alles an Überraschungen bringen würde.
Mit knapp einem Jahr schreit so ein Kind nämlich nicht nur, sondern es kneift und tritt gleichzeitig, oder es droht, sich irgendwo hinunterzustürzen oder ein Erbstück von hohem ideellem und materiellem Wert zu zerstören. Jeden Tag sieht man mich schmallippig in den Keller hinuntersteigen, um erneut ein lieb gewonnenes, zerbrechliches Dekorationsobjekt in Sicherheit zu bringen. Jeden zweiten Tag sieht man mich, noch etwas schmallippiger, an den Mülltonnen, um erneut ein lieb gewonnenes, zerbrochenes Dekorationsobjekt zu entsorgen.
Vor der Bewegungsfreude eines zehn Monate alten Kindes ist nichts und niemand sicher. Und als Mutter schwebt man pausenlos in Gefahr. Mein Junge zum Beispiel ist jetzt dazu übergegangen, mir seine Zuneigung nicht mehr bloß durch sein engelsgleiches Lächeln zu zeigen. Stattdessen stürzt er sich gern aus heiterem Himmel kreischend auf mich, um mir wahlweise in Nase, Wange oder Hals zu beißen. Und, nein, um doofen Fragen vorzubeugen, ich weiß nicht, wo er sich das abgeguckt hat.
Diese anfallartigen Sympathiebekundungen enden nicht selten blutig, immer aber mindestens mit deutlich sichtbaren Abdrücken von insgesamt vier Zähnen in meinem Gesicht.
Mein Mann öffnete neulich dem Paketboten die Tür, ohne zu bemerken, dass sein Sohn ihm die Stirn zerkratzt hatte, sich ein Rinnsal Blut zwischen den Augen gebildet hatte und er original so aussah wie die Opfer in amerikanischen Actionfi lmen, die von einem Scharfschützen mit einem einzigen Schuss niedergestreckt wurden. Das Gesicht meines Sohnes sieht allerdings oft nicht viel besser aus. Bedauerlicherweise hat er meinen blassen Teint geerbt - freundlich würde man ihn "schneewittchenhaft" nennen, wer's nicht gut mit mir meint, sagt "wie Wasserleiche" - auf dem jeder Kratzer und jeder blaue Fleck einen ungeheuer intensiven und schlechten Eindruck hinterlassen.
Man muss wirklich sagen, dass das wachsende und zunehmend bewegliche Kind das Leben seiner Eltern noch mal komplett auf den Kopf stellt. Rituale, die früher in reibungsloser Harmonie abliefen, geraten jetzt zu ernst zu nehmenden Herausforderungen.
Die Nahrungsaufnahme: Da mein Kind ja mittlerweile weiß, wie man brav ein Gläschen Bio-Müsli ohne nennenswerte Verzögerung aufi sst, möchte es jetzt zeigen, was es noch alles kann: nämlich die Küche innerhalb weniger Minuten in einen dringend renovierungsbedürftigen Raum verwandeln.
Der Brei geht ja nicht nur in den Mund rein, er kommt auch wieder raus, toll! Und wenn ich bloß heftig genug mit den Armen herumfuchtele, bekommt auch Mamas weiße Bluse was zu essen, toll!
Und wenn ich mit beiden Händen nach dem Löffel greife und mir dann das Möhrenmus in die Haare schmiere, ist das ein ganz neuartiges haptisches und pädagogisch sicherlich wertvolles Erlebnis, toll! Das Baden: Vorbei die Zeit, in der das Baby sich behaglich und entspannt in der Wanne aalte. Jetzt dient das Badewasser hauptsächlich einem Zweck: so viel wie möglich davon durch intensives Planschen und Strampeln aus der Wanne hinaus und auf den Badezimmerboden zu befördern. Ein ernsthafter Wasserschaden, der auch die Nachbarschaft in Mitleidenschaft ziehen wird, ist nur noch eine Frage der Zeit.
Das Einschlafen: Nach wie vor schläft mein Kind ja am besten auf einem beweglichen Untersatz ein, der Mama, Papa oder Patenonkel heißt. Bloß wiegt der Kleine mittlerweile fast so viel wie ein Kasten Mineralwasser! Ich denke, die spät gebärende Mutter tut gut daran, sich beizeiten einen guten Orthopäden zu suchen.
Und einen guten Psychiater, denn mittlerweile ist das Windelwechseln zu einer nervlich kaum mehr zumutbaren Belastung geworden. Einem sehr beweglichen und übellaunigen Objekt die Hose und die Windel auszuziehen, den Hintern abzuputzen, womöglich noch einzucremen und das Ganze wieder sauber zu verpacken, das ist eine ungeheure physische und psychische Leistung.
Nun will ich aber nicht unerwähnt lassen, dass das Zusammenleben mit einem Zehn-Monats-Baby auch seine Vorteile hat. Man kommt zum Beispiel viel an die Luft. Mein Sohn fi ndet das Zusammensein mit mir allein auf Dauer nämlich zu langweilig. Deswegen sind tägliche Spaziergänge und mehrmals wöchentlich Besuche auf dem Spielplatz angesagt.
Da sitzt er dann rum, versucht, den Sandkasten leer zu essen und die Förmchen der anderen Kinder in seinen Besitz zu bringen. Dabei tut er die ganze Zeit so, als gäbe es mich gar nicht, und winkt aufdringlich fremden Eltern zu, als wolle er unbedingt adoptiert werden. Bloß wenn es Probleme gibt - Hunger, Windel voll, Hintern kalt, oder ein Kind nimmt ihm ein Spielzeug weg, das ihm sowieso nicht gehört -, dann bin ich meinem Sohn wieder gut genug. Da werden die Ärmchen hochgerissen, und jeglicher Wunsch nach Abnabelung ist auf der Stelle vergessen.
Na ja, Hauptsache, frische Luft und viel Bewegung, sag ich immer. Und jetzt muss ich eilig mit dem Schreiben zum Ende kommen, denn mein Sohn macht sich gerade mal wieder unkalkulierbar hefeteigartig daran, die Welt zu entdecken - insbesondere die Welt, die sich im Inneren des Geschirrschranks verbirgt.
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Teil 16 Achtung! Schneller Krabbler von links
Vor dem jüngsten Familienmitglied im Hause Kürthy ist nichts und niemand mehr sicher. Lagebericht aus dem zehnten Monat mit Kind.