Schon ein Jahr! Erst ein Jahr! Kein anderes meiner Lebensjahre – abgesehen natürlich von meinem eigenen ersten – war so außergewöhnlich wie dieses. Und, nein, es reicht nicht, dass wir Erstgebärenden innerhalb dieser kurzen Zeitspanne den sachgerechten Umgang mit Feuchttüchern, das verkehrssichere Fahren von Kinderwagen und das Auskommen mit regelmäßig weniger als fünf Stunden Schlaf am Stück erlernen müssen. Am Ende dieser ersten zwölf Monate Leben mit Kind – manche nennen es zeitweilig, je nachdem, wie die letzte Nacht war, auch Überleben – lauert noch eine ganz besondere Herausforderung: der Kindergeburtstag. Da ich mich ja in mehreren Krabbel-, PEKiP- und Rückbildungsgruppen engagiert habe, war ich in den letzten Wochen beinahe täglich auf ersten Geburtstagen eingeladen. Man muss es ganz deutlich so sagen: je größer der Kreis der Feiernden, desto größer die Erleichterung, wenn das Ganze vorbei ist. Bei Hugos Party waren beispielsweise 32 Kinder plus dazugehörige Mütter anwesend. Der Boden war übersät mit Spielzeug, Dinkelstangen und Babys, ständig musste man höllisch aufpassen, nicht auf dieses oder jenes draufzutreten, musste Kaffeetassen vor radikalen Kindern in Sicherheit bringen und große Kuchenstücke aus klebrigen Mündern und Händen klauben. Nach einer halben Stunde in diesem Gewimmel – ich balancierte endlich das erste Stück Kuchen auf der Gabel, während sich ein süßes Mädchen seine Rotznase an meiner Hose abwischte – bemerkte ich plötzlich das Fehlen meines Sohnes. Er hatte sich innerhalb von Millisekunden aus meinem Blickfeld davongemacht. So schnell es der fast lückenlos mit Kindern bedeckte Fußboden zuließ, nahm ich sofort die Verfolgung auf. Ich sah ihn nicht. Aber ich hörte ihn. Ähnlich hilflos und fieberhaft, wie man nach dem klingelnden Handy in der überfüllten der Handtasche sucht, suchte ich nach dem schreienden Baby in der überfüllten Wohnung. Ich fand ihn schließlich in einem Stofftunnel. Er steckte zwischen zwei Kindern fest, die sich partout nicht mehr von der Stelle bewegen wollten. Die beiden mussten von ihren Müttern mit Drohungen und Beschwörungen herausgelockt werden, bis ich mein verstörtes Kind endlich befreien konnte. Nebenbei bemerkt, war mir und meinem Sohn ein solcher Tunnel nicht fremd. Soweit ich weiß, war er das einzige Kind, das je in einem PEKiP-Kurs völlig angstfrei und ohne zu zögern in einen baugleichen Tunnel hineingekrabbelt war und auf halber Strecke ganz entspannt ein Päuschen eingelegt und reingekackt hatte. Ich hatte es damals mit Humor genommen. Die anderen Kursteilnehmer nicht. Insbesondere den strafenden Blick der mit Sagrotan-Tüchern und Wisch-Eimer herbeigeeilten Gruppenleiterin werde ich nicht vergessen. Als sei ich für die Verdauung meines Sohnes persönlich verantwortlich zu machen. Jedenfalls: Nach der phobischen Tunnelerfahrung verließ ich wenig später das Geburtstagsfest, hatte weder Kaffee noch Süßspeisen zu mir genommen, mein Make- up hatte sich in hektischem Schweiß verflüchtigt, und den ganzen restlichen Abend hatte ich damit zu tun, meinen Sohn zu beruhigen und die Gestaltung seines Geburtstages zu überdenken. Es wurde dann ein wunderbares Fest. Außer meinem war kein anderes Kind anwesend. Die Paten und Großeltern überreichten ihre Geschenke, unter anderem einen Stofftunnel. Aber mein Sohn freute sich, scheint psychisch nicht anfällig zu sein. Der Lieblingsbabysitter kam, mein Junge war froh, uns los zu sein, und wir sind alle zusammen in Ruhe essen gegangen. Ruhe ist natürlich etwas, wovon das einjährige Kind nur wenig versteht. Es macht eigentlich ständig Geräusche. Sogar wenn er schläft oder gar nicht im Hause ist, ist mein Sohn für einen Großteil des Lärms verantwortlich. Kurz vor seinem Geburtstag zum Beispiel klingelte es an der Tür, und ich hörte sehr, sehr seltsame Stimmen davor. Ein gespenstisches Singen, unterbrochen von irrem Gekreische. Ich öffnete nur einen Spalt, sah aber niemanden, außer dem mir wohlbekannten, normalerweise sehr freundlichen Postboten. Ein Hinterhalt womöglich? Der Mann wirkte angespannt. Er überreichte mir ein Paket, sagte, das Ding hätte ihn schon die ganze Tour genervt, und machte sich schnell vom Acker. Das Paket kreischte ihm hinterher: „Hui, gagaga, hu hu!“ Es stellte sich heraus, dass das sprechende Telefon, das ich für meinen Sohn zum Geburtstag bestellt hatte, sich auf dem Postwege selbst angeschaltet hatte. Den Aus-Schalter habe ich übrigens bis heute nicht gefunden, wir benutzen es sicherheitshalber ohne Batterien. Ein anders Mal schreckten mein Mann und ich aus dem Schlaf und schlichen mit Küchenmessern bewaffnet ins Wohnzimmer – ich voran, mein Mann ist eher der intellektuelle Typ. Wir rekonstruierten den Tathergang: Unser Junge, der auf jedem Knopf begeistert rumdrückt, hatte die Stereoanlage neu programmiert: auf Wecken mit voller Lautstärke um 3 Uhr 37. Es ist leider so, dass mein Sohn nur selten irgendwelche harmlosen Tastenkombinationen erwischt. Wir sind ja kein besonders technikbegabter Haushalt. Das bedeutet, dass unser Telefon seit Tagen auf stumm geschaltet ist und der Fernseher nur noch drei Programme ausstrahlt. Ein Jahr ist vergangen. Und mein Leben ist nicht mehr wiederzuerkennen. Manchmal finde ich es schade, dass ich das Leben vorher, ohne Kind, nicht mehr geschätzt habe. Wie gedankenlos hat man sich sonntagmorgens um zehn noch mal umgedreht! Wie selbstverständlich spontane Einladungen angenommen! Durchgearbeitet, durchgeschlafen, durchgemacht! Manchmal bin ich froh, dass ich vorher nicht so ganz genau wusste, was da auf mich zukommt: die Geburt – und, fast noch schlimmer: der Geburtsvorbereitungskurs! Den eigenen Rhythmus komplett aufgeben zu müssen. Die ständige Angst, etwas falsch zu machen, und manchmal die unvergleichliche Angst, du könntest dieses unvergleichlich geliebte Menschlein wieder verlieren. Unvergleichlich ist sowieso alles, was dir begegnet, wenn dein Kind zur Welt kommt. Es lohnt sich also nicht, sich vorher viele Sorgen zu machen. Ich habe mit einem nachtaktiven, anstrengenden Vielfraß gerechnet. Bekommen habe ich einen beklemmend ausgeglichenen kleinen Mann, der charakterlich nur wenig nach mir kommt. Ein Vielfraß ist er immerhin. Ein Jahr ist vergangen. Ein unvergleichliches. Das glücklichste meines Lebens. Schön wäre allerdings, wenn mir einer sagen könnte, wie ich den Fernseher neu programmiere.
Teil 18 Eingeklemmt im Geburtstagstunnel
Ein Jahr mit Sohn: Grund zu feiern. Angesichts abschreckender Kinderparty-Erlebnisse allerdings eher bescheiden. Mit ihrem Lagebericht aus dem zwölften Monat mit Kind verabschiedet sich Ildiko von Kürthy von den ELTERN-Lesern.