Wisst ihr noch, diese kleinen Schockmomente, damals kurz nach der Geburt, als wir Eltern plötzlich – neben all dem Glück über den Winzling – realisierten: Wenn wir uns nicht kümmern, wird er nicht überleben.
Mütterliche Phasen
Doch dann, zum Glück, verflüchtigte sich dieses Überforderungs-Gefühl wieder, wir krempelten die Ärmel hoch, klemmten uns Streichhölzer in die müden Augen, knuddelten das duftende, kleine Ding voller Liebe und Zuversicht. So ging es auch mir: Ich pumpte Milch ab, damit das Hutzelchen nicht verhungerte, campierte neben dem Gitterbett (Dreitagefieber, Bronchitis, Infekte aller Art), klebte Pflaster, schleppte Kinder in Babyschalen durch die Gegend, bis ich aussah wie eine krumme Banane. Und ich verlieh meinen Zeigefinger, damit die kleine heiße Hand sich dran klammern konnte – für erste Gehversuche.
Dann Phase zwei: Ich dachte jedes Mal, ich bekomme einen Herzinfarkt, wenn die Kinder das erste Mal vorwärts die Treppe runtereierten, wenn sie halsbrecherisch mit dem Laufrad an Haus-Einfahrten vorbeisausten, den ersten Bonbon lutschten oder unbeobachtet Leitern erklommen hatten. Oder wenn sie mit dem scharfen Obstmesser Äpfel massakrierten – alles sollte plötzlich "lalleine" sein. Heute, nach fast 18 Elternjahren, muss ich sagen: Das hat ganz schon Nerven und Kraft gekostet.
Aber es waren und sind eben auch tolle Momente, in denen man die Ernte einfährt für all die Energie und die Liebe, die man aufgebracht hat, damit die Kinder in ihre (eigene) Spur finden. Tolle Momente auch deshalb, weil sich das Familiengefüge jedes Mal neu sortiert, wenn einer von uns einen neuen Schritt probiert. Oder einfach mal nicht da ist.
Von Schritt zu Schritt ein bisschen mehr loslassen
Wenn die kleine Schwester, die sich gerade noch prima von den großen Brüdern piesacken ließ, plötzlich eine Woche auf dem Reiterhof ist – da müssen sich die Jungs umorientieren und andere Blitzableiter suchen. Und wenn der jüngere Bruder, der angeblich "nur nervt", plötzlich zwei Wochen im Sportcamp ist und nicht mehr für die Modeberatung zur Verfügung steht, muss der ältere Bruder eben allein entscheiden, was er anzieht. (Bei uns ist es nämlich so, dass Juri Mattis Beratung sucht, um zu ergründen, ob ein Hoodie, den er sich kaufen will, wirklich cool oder voll daneben ist.)
Und auch ich muss meine Rolle immer wieder neu finden: Nach jedem Entwicklungsschritt meiner Kinder ging und geht es darum, ein bisschen mehr loszulassen. Ja, und in so einem Prozess befinden wir uns gerade, nur dass Juri jetzt nicht zwei Wochen weg ist, sondern ein Jahr, neun Stunden Zeitverschiebung und Tausende Flugkilometer entfernt.
"Vermisst du ihn gar nicht?!!!!", werde ich von anderen Müttern betroffen gefragt. Na ja, das ist gar nicht so leicht zu beantworten, denn die Abreise meines großen Sohnes auf dem Flughafen war für mich einer der bewegendsten, tollsten Eltern-Momente, die ich je hatte.
Großes Vermissen unter Geschwistern
Weinen ging nicht, weil der Rest um mich herum schon schluchzte und ich es ihm nicht noch schwerer machen wollte. Also sah ich ihm einfach verliebt zu, wie er da in der Sicherheitsschlange stand, nachdem ich ihn langelange zum Abschied gedrückt hatte: kein Hutzelchen mehr, sondern 1,95 Meter groß und voller Vorfreude auf die große, weite Welt. Ein lebenslustiger Schlaks, der keine Angst hatte, ein Jahr lang ohne uns klarzukommen. Und der Stolz, ihn und uns bis hierhin gebracht zu haben, war ein wunderbar wärmendes Gefühl.
Smilli schlief dann zwei Wochen lang in seiner Bettwäsche, die ich nicht waschen durfte, weil sie noch nach dem Bruder duftete. So ging es etwas besser. Trotzdem: Sie vermisst ihn und wird in unregelmäßigen Abständen von Kummer überschwemmt. Keiner, der beim Duschen Achtziger-Mucke hört und laut mitsingt, kein Gackern aus Juris Zimmer, wenn er mit seinen Freunden zockt. "Es ist sooo still, Mami!" Und sie hat jetzt schon angekündigt: "Wenn er wiederkommt, muss er sich mal länger als drei Sekunden von mir umarmen lassen, ob er will oder nicht. Das hat er jetzt davon!"
Matti hingegen bekam erst mal Panik. Denn als Juri weg war und plötzlich alle "Kannst du mal eben"- Aufträge bei ihm landeten, wurde ihm klar, wie viele Vorteile so ein Leben als Zweitgeborener hat: Denn er konnte immer in Juris Windschatten mitfahren und sich bei Bedarf unter dem Radar verkrümeln. "Ach, du Scheiße", rutschte es ihm raus, "dann stehe ich jetzt ja immer im Mittelpunkt!". "Tja, Game over", kommentierte mein Schwager daraufhin mit Tränen lachendem Smiley per Messenger.
Liebeskummer durchs Vermissen
Aber dabei blieb es nicht. Denn seitdem hat sich wirklich Beachtliches getan. Matti ist groß geworden. Im wörtlichen Sinne: Nachdem ihm sein Bruder in den letzten Jahren um Längen voraus war, was Matti frustrierte, wuchs er nun auf einmal innerhalb von wenigen Monaten um sichtbare Zentimeter. Und ich denke, nicht ganz ohne Rührung: So ist es wohl, wenn ein Sandwich-Kind auf einmal Raum in der Familie bekommt.
Und wie ging es mir nach diesem ersten tollen Eltern-Moment in der Abschiedsschlange? Ich durchlief, wie die Kinder, mehrere "Phasen". Vom Flughafen wieder zu Hause, kam die Ernüchterung: Niemand quatschte mir mehr nach der Schule das Ohr ab und hielt mich auf Trab. Smilli und Matti sind meist oben in ihren Zimmern und genügen sich selbst. Juri hatte uns immer in Beschlag genommen – das fehlte mir plötzlich sehr. Eine ganze Woche lang ging ich nachmittags nutzlos ins Bett, futterte Chips und glotzte Netflix. Ich hatte richtig Liebeskummer.
Immo hingegen, der am Flughafen zerflossen war, berappelte sich schneller. Erst als Juri dann bei einem Skype-Telefonat, vor Glück strahlend, zu mir sagte: "Mami, ich muss dir sagen, ich vermisse euch leider gar nicht, es ist so toll hier!", fiel bei mir der Groschen. Ich gab mir die Erlaubnis, ihn nicht mehr zu vermissen, und seitdem feiere meine freigewordene Kapazität – bis er wiederkommt.
Oje, ich wachse!
... hat zwei Söhne (Juri, 17, Matti, 15), eine Tochter (Smilla, 10), einen Mann (Immo), einen Hund (Flocke), einen Job und ein Haus in der schleswig-holsteinischen Provinz. Was dabei im Alltag herauskommt, erzählt sie uns hier alle zwei Monate im Wechsel mit Joachim Brandl, Vater von zwei kleinen Töchtern aus Wien.