Nicht viele stecken so tief im Thema wie wie Soziologin, Unternehmensberaterin und Coachin Luisa Hanke. 2019 gründete die alleinerziehende Mutter einer achtjährigen Tochter das VereinbarkeitsLAB in Berlin. Es unterstützt Mütter, Väter und Unternehmen dabei, Job und Familie besser unter einen Hut zu kriegen. Dabei spielen zwar neue Arbeitszeitmodelle, Netzwerke oder Homeoffice eine Rolle – trotzdem können auch Krankenpfleger, Polizistinnen, Lehrer oder Erzieherinnen von Luisa wertvolle Tipps mitnehmen.
Wir haben die Beraterin nach der Essenz ihrer Erfahrungen gefragt: Für entscheidend hält sie die folgenden zehn Zutaten – aus denen ihr eure ganz persönliche Vereinbarkeitsformel zusammenstellen könnt.
1. Checkt eure Bedürfnisse und Werte!
Was ist mir in Job und Familie wichtig? Wie will ich arbeiten? Welche unbewussten Rollenbilder leiten mich? Klärt diese Fragen unbedingt, bevor ihr auch nur eine einzige Bewerbung rausschickt. Ich arbeite häufig mit Eltern, die tief im Inneren davon überzeugt sind, dass sie gar nicht beides haben können: Erfüllung in der Familie und Erfolg im Beruf. Das Problem ist, dass Mütter sich oft immer noch allein für das Wohl der Familie zuständig fühlen. Und Väter sich meist in der Versorgerrolle sehen. Mamas treten deshalb beruflich viel schneller kürzer – obwohl manche im Job gern Gas geben würden, wenn sie zu Hause Hilfe hätten. Väter dagegen rödeln Vollzeit mit Überstunden. Dabei wünschen sich 79 Prozent mehr Zeit mit ihren Kindern: Ein Drittel der befragten Väter möchte gern Teilzeit arbeiten, die Mehrheit davon am besten Vollzeitnah und ohne Überstunden. Deshalb immer wieder schauen, ob die Arbeitsaufteilung noch den Werten und Bedürfnissen beider Partner entspricht. Einmal gemeinsam im Detail aufzuschreiben, was daheim alles anfällt und wer was erledigt, schafft eine gute Gesprächsgrundlage.
2. Nutzt den verdeckten Stellenmarkt, um an gute Teilzeit-Jobs ranzukommen!
Nur ein Drittel der freien Jobs wird überhaupt ausgeschrieben, aber 95 Prozent der Bewerber fokussieren sich ausschließlich auf diese Stellen. Erfolg versprechender sind Plattformen wie LinkedIn oder XING – hier lässt sich gezielt ein Netzwerk aufbauen, das man bei Bedarf auch anschreiben kann. Keine Angst: Die meisten helfen gern. Jemand aus meinem Bewerbungstraining bekam sogar einen Video-Anruf mit einer Nobelpreisträgerin. Gut finde ich auch, mit Firmen in Kontakt zu treten, um herauszufinden: Wie sieht Erfolg für eure Firma aus? Was war die beste und schlechteste Einstellung? Wie wichtig ist deinem Unternehmen Familienfreundlichkeit? Für solche „Job Research Interviews“ gibt es in vielen großen Firmen sogenannte Unternehmensbotschafter oder Corporate Influencer.
Wenn du gerade ausschließlich auf Jobsuche bist, ist es sinnvoll, fünf Bewerbungen pro Woche zu verschicken oder fünf Netzwerkgespräche zu führen. Jobs, auf die man über den verdeckten Stellenmarkt stößt, haben einen Riesenvorteil: Sie sind noch gestaltungsfähig. Viele Eltern wollen ja lieber Teilzeit arbeiten, während sich die meisten Stellenanzeigen nur an Vollzeitkräfte richten.
3. Entwickelt Selbstbewusstsein, und stecht aus der Masse heraus!

2025 werden dem Arbeitsmarkt voraussichtlich 6,5 Millionen Arbeitskräfte fehlen. Unternehmen wissen das und kämpfen bereits um gute Mitarbeiter. Deshalb können wir uns heute selbstbewusst aufstellen – trotz Corona-Krise. Locker 95 Prozent der Eltern, mit denen ich arbeite und die topqualifiziert sind, haben aber leider nur ein sehr geringes Selbstbewusstsein. Gerade auch, wenn eine Elternzeit dazwischenliegt. Es tut mir weh, wie sehr sie an sich zweifeln. Sie sind sich nicht bewusst, was ihre Kompetenzen sind, welche Berufserfahrungen im Job, welche Talente sie mitbringen. Deshalb lasse ich sie immer 20 Erfolgserlebnisse aufschreiben. Es geht um unsere Haltung. Fühlen wir uns als Bittsteller nach dem Motto „Bitte genehmigt mir meinen Teilzeitwunsch“, oder wissen wir um unseren Wert? Und bei Personalern, die Bewerbungen innerhalb von Sekunden scannen, überzeugt man am besten mit seinen – kurz und knackig formulierten – Qualifikationen. Es geht dabei vor allem um den Mehrwert, den man der Firma bringt. Übrigens: Männer bewerben sich oft schon, wenn sie nur 60 Prozent der Stellenanforderungen erfüllen, Frauen erst, wenn sie 100 Prozent mitbringen. Bei Männern heißt das: Sie bewerben sich auf ihr Potenzial hin. Davon können Frauen lernen.
4. Verhandelt Vereinbarkeits-Benefits souverän!
Beim Vorgesetzten oder im Bewerbungsgespräch ist es wichtig, genau zu wissen, was man will – um dann mit einem konkreten Vorschlag auf Augenhöhe zu punkten: bei Arbeitszeit, Homeoffice-Tagen oder dem Wunsch nach Flexibilität. Argumente überzeugen besonders, wenn sich Erfolgsaussichten in Zahlen darstellen lassen. Beim Wunsch nach Teilzeit könnte man so punkten: „Früher war ich als Sachbearbeiterin in der Logistik tätig. Der Umsatz hat sich dadurch um x Prozent erhöht. Diese Arbeit habe ich in x Wochenstunden und mit x Tagen Homeoffice geschafft. Diese Flexibilität hat es mir ermöglicht, auch im Notfall, etwa wenn das Kind krank war, von zu Hause aus zu arbeiten. Deswegen hatte ich sehr wenige Fehltage.“
5. Plant euer Homeoffice!

Während des Corona-Lockdowns leisteten vor allem die Mütter mal wieder viel mehr unbezahlte Haus- und Care-Arbeit. Ja, es ist praktisch, die Waschmaschine nebenher anzuschmeißen. Aber Arbeitszeit ist Arbeitszeit! Und im Homeoffice braucht es Selbstdisziplin. Ich plane sonntagabends immer meine Arbeitswoche. Dabei priorisiere ich die Aufgaben in einer Liste nach dem sogenannten Eisenhower-Prinzip. Erstens: Was ist dringend? Das kommt in die oberste Spalte. Zweitens: Was ist wichtig, aber nicht dringend? Das datiere ich. Drittens: Was delegiere ich? Und zum Schluss: Was lasse ich weg?
6. Probiert es mit „Deep Work“ und der Pomodoro-Technik!
Im Homeoffice nur ein paar Stunden ungestört von Mails und Anrufen arbeiten zu können – da schafft man viel weg. Ich empfehle aber, vorab mit Kollegen und Vorgesetzten abzusprechen, dass man täglich zu einer bestimmten Zeit offline geht. Beugt Missverständnissen vor! Diese konzentrierte Deep-Work-Phase lässt sich gut mit der sogenannten Pomodoro-Methode kombinieren: also 25 Minuten hoch konzentriert arbeiten und danach fünf Minuten Pause machen. Nach vier Durchläufen, sprich nach zwei Stunden, ruht man sich 15 bis 20 Minuten aus. Und nach sechs Durchgängen ist Schluss. Apps wie „Focus To-Do“ stoppen die Zeit. (Francesco Cirillo, der Erfinder der Methode, machte es mit einer roten runden Eieruhr, daher „pomodoro“, das italienische Wort für Tomate.) Auch mit Kindern zu Hause lässt es sich dank dieser Technik entspannter arbeiten. Denn 25 Minuten kann man etwas älteren Nachwuchs schon mal ohne schlechtes Gewissen vertrösten. Oder man nutzt den Mittagsschlaf des Babys zum Powerworken.
7. Sucht euch familienfreundliche Firmen!
Bewertungsplattformen wie kununu.de informieren über die Work-Life-Balance in Unternehmen. Aber am besten ist es, sein gutes altes Netzwerk zu aktivieren, das dann ehrlich berichtet, wie die Firmenkultur wirklich aussieht, ob es Teilzeitstellen, Präsenzkultur oder Jobsharing gibt. Wahrscheinlich wird ein Unternehmen, in dem alle Führungskräfte Vollzeit arbeiten und ausschließlich männlich, weiß und über 50 sind, nicht sehr divers und familienfreundlich sein. Das hat nichts mit Bösartigkeit zu tun. Es fehlt schlicht das Verständnis. Richtig gut aufgestellt ist hier zum Beispiel der Pharmakonzern Pfizer mit seinen zwei Standorten in Berlin und Freiburg. Das Unternehmen beschäftigt sehr viele Mütter mit teils drei oder mehr Kindern in Führungspositionen, die Teilzeit arbeiten.
8. Verzichtet für Gleichberechtigung auf ein bisschen Geld!
„Mein Mann verdient mehr als ich. Deshalb arbeite ich weniger.“ Das höre ich oft. Der Geldfaktor ist leider das K.o.-Kriterium. Doch wenn Eltern nie einen Kompromiss eingehen, wird es unglaublich lange dauern, bis sich was ändert. Deshalb – sofern möglich – lieber auf ein wenig Geld verzichten, dafür aber gleichberechtigter arbeiten! Das ist der Preis, den Familien für mehr Emanzipation und finanzielle Unabhängigkeit von Frauen zahlen müssen. Doch unsere Gesellschaft braucht diese Veränderung. Ich kenne Paare, bei denen sich der Gender Pay Gap, also das geschlechtsspezifische Lohngefälle, in der Beziehung angeglichen hat, nachdem beide 30 Stunden die Woche arbeiteten.
9. Schaut nach Schweden!

In Schweden gab es in den 70er-Jahren einen starken Fachkräftemangel, und der Staat wollte Frauen für den Arbeitsmarkt gewinnen. Deshalb wurden das Ehegattensplitting abgeschafft und vier obligatorische Vätermonate nach der Geburt eingeführt. Heute sind Frauen dort weit mehr auf allen Hierarchieebenen repräsentiert als hierzulande. Und während in Schweden und Norwegen die 35-Stunden-Woche Standard ist und viel mehr Mütter Vollzeit arbeiten, haben wir in Deutschland noch immer eine Überstunden- und Präsenzkultur. Schwedische Vorgesetzte, egal ob männlich oder weiblich, praktizieren zudem öfter das „Loud leaving“, sagen also nachmittags auch mal gut hörbar im Büro Tschüs, um mit dem Kind zum Zahnarzt zu gehen. Zudem ist zwischen 16 und 20 Uhr Familienzeit angesagt. Zur Not setzt man sich halt abends noch mal zu Hause an den Rechner. Im Norden werden Mitarbeiter als mündiger angesehen und bringen so besser eigene Lösungen ein. Dinge, die für Unternehmen wichtig sind. Deutsche Firmen haben hier Nachholbedarf. Es wäre deshalb gut, wenn Familien und Unternehmen bei uns den Mut entwickeln würden, mal neue, ungewöhnliche Wege zu gehen.
10. Besteht auf Familienfreundlichkeit – es zahlt sich auch für eure Firma aus!
Familienfreundlichkeit beschert Unternehmen laut einer Studie von 2019 sogar finanzielle Vorteile. Der Grund: Hohe Fehlzeiten, Fachkräftemangel und der Verlust von Mitarbeitern kosten so viel mehr Geld. Gibt ein Unternehmen jährlich beispielsweise 300000 Euro für familienfreundliche Maßnahmen aus, spart es so gleichzeitig 375000 Euro ein und erwirtschaftet damit eine Rendite von 25 Prozent. Wird das familienfreundliche Angebot des Arbeitgebers ausgeweitet auf Väter und Menschen, die Angehörige pflegen, wächst die Rendite sogar auf bis zu 40 Prozent.
Luisa Hanke studierte Soziologie mit dem Schwerpunkt Gender-Studies an der Freien Universität Berlin. Zudem leitete sie über zehn Jahre internationale Projekte zum Thema Gleichstellung, Postkolonialismus und Feminismus. Nach ihrer Ausbildung als Systemischer Personal- und Business-Coach fördert sie heute die familienfreundliche Karriere und Unternehmenskultur sowie den gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Vereinbarkeit. In Bewerbungstrainings, monatlichen Online-Veranstaltungen und Workshops bringt Luisa Hanke ihr Wissen an Mütter und Väter. Weitere Infos unter Vereinbarkeitslab.de oder auf Instagram.
Quellen:
- Väterreport des BMFSF von 2018
- Forsa/ELTERN-Studie 2015
- Familienreport des BMFSFJ 2017