Mit dieser Frage hat sich die Autorin Anne Waak lange beschäftigt. In ihrem neuen Buch – und in diesem Interview – ermuntert sie Eltern wie Kinderlose, über Formen menschlicher Gemeinschaft neu nachzudenken
ELTERN: Was bedeutet Familie für Sie?
Anne Waak: Anliegen meines Buchs ist die Erweiterung des Begriffs Familie. Für die meisten Menschen hier in Europa bedeutet er: "Vater, Mutter, Kind". Inzwischen vielleicht auch "Vater, Vater, Kind" oder "Mutter, Mutter, Kind". Trotzdem ist unsere Vorstellung nach wie vor von der christlichen Kleinfamilie geprägt, die sich auf Maria, Josef und Jesus beruft. Das ist in meinen Augen ein normiertes Bild, das nicht zeitgemäß ist, nicht der heutigen Wirklichkeit entspricht und einengend wirkt.
Inwiefern?
Insofern als andere Modelle – seien sie gewollt oder nicht – als minderwertig gelten, als gescheitert oder unglücklich, maximal als zweitbeste Version. Also nicht als etwas Gleichwertiges zur klassischen Familie. Oder als Lebensart, die vielleicht sogar Vorteile hat.
Sie sind in Ostdeutschland groß geworden, das während Ihrer ersten sieben Lebensjahre noch die DDR war. Wie hat das Ihr Verständnis von Familie geprägt?
In der DDR gab es keine Hausfrauen-Ehen. Nicht, weil man so fortschrittlich war, sondern aus ökonomischen Gründen: Man brauchte die Frauen, um die Planwirtschaft am Laufen zu halten. Folglich arbeiteten sie und waren dadurch sehr unabhängig. Es gab dazu ein gut ausgebautes Kinderbetreuungs-System. Um eine Familie zu gründen, musste man also nicht verheiratet sein. Meine Eltern waren es auch nicht. Bei uns hat meine Mutter als Psychologin das Geld verdient, und mein Vater, ein Künstler, hat sich daher zeitweise verstärkt um mich und meinen Bruder gekümmert.
Der Startschuss zu Ihrem Buch fiel, als Sie um die 30 anfingen, über eigene Kinder nachzudenken.
Ich war damals mit einem Mann liiert, von dem ich von Anfang an wusste, dass er keine Kinder möchte. Weil ich ihn liebte, hatte ich die Idee, mit ihm zusammenzubleiben und mit einem anderen ein Kind zu bekommen, also eine Entkopplung der Eltern- und Paarbeziehung. Damals fing ich an, die Familien um mich herum genauer unter die Lupe zu nehmen.
Und was haben Sie da gesehen?
Ich sehe in meinem Umfeld viele Menschen, die nach wie vor auf herkömmliche Art und Weise eine Familie gründen. Aber: Die wenigsten schaffen es, sie dann auch jahrzehntelang in dieser Form zu erhalten. Und mich interessiert, woran das liegt.
Jetzt machen Sie unseren Leserinnen und Lesern ein bisschen Angst.
Niemand muss Angst haben, im Gegenteil. Ich glaube, dass vielen Menschen schon geholfen wäre, wenn sie ihr Bild von Familie erweitern würden. Dann stünden wir alle weniger unter Druck. Weil wir uns dann überlegen könnten, wie sich das Leben für uns persönlich am stimmigsten anfühlt, statt danach zu schielen, wie "man das macht".
Könnte es sein, dass Sie Ihre Weltsicht zu sehr auf andere übertragen?
Es ist doch eher andersherum: Eine mögliche Form des familiären Zusammenlebens – zwei Eltern mit ihren biologischen Kindern – gilt im Moment als die einzig richtige und wird auf alle Menschen übertragen.
Was setzt moderne Familien denn Ihrer Meinung nach unter Druck?
Die heterosexuelle Zweierbeziehung ist überfrachtet mit Erwartungen: Partner sollen sich leidenschaftlich lieben und gleichzeitig beste Freunde sein – und das über Jahrzehnte hinweg. Gleichzeitig soll der häusliche Alltag mit all seinen Routinen funktionieren. Noch nie in der Menschheitsgeschichte wurde so viel von Elternpaaren erwartet. Doch je höher die Erwartung, desto leichter kann sie enttäuscht werden. Und wenn das Paar zerbricht, dann zerbricht in diesen Konstellationen in der Regel auch die Familie –zumindest glauben wir das. Das macht es für alle Beteiligten sehr schwer.
Dabei ist die drei- oder vierköpfige Familie, die wir für das klassische Modell halten, noch gar nicht so alt, oder?
Hier herrscht der Irrglaube vor, die Kleinfamilie sei eine natürliche, tief verankerte Anordnung. Deswegen streben wir danach. Dabei handelt es sich um ein ziemlich neues Modell, das sich erst in Zeiten der Industrialisierung herausgebildet hat. Meine These ist, dass dieses Modell unseren Bedürfnissen gar nicht so nahe kommt und deswegen auch oft so schwierig zu erhalten ist.
Wo liegen denn in Ihren Augen unsere wahren Bedürfnisse?
In 95 Prozent der Fälle haben wir im Laufe der Menschheitsgeschichte in größeren Verbänden aus mehreren Generationen zusammengelebt, die gar nicht zwangsläufig miteinander verwandt waren. Das gibt es ja heute noch in vielen Kulturen. Was diese Gruppen zusammenhält, ist das Gefühl, sich auf die anderen verlassen zu können. Es geht also um Kooperation – und nicht darum, sich einzuigeln.
Es kann doch auch schön sein, wenn man sagt: Unsere kleine Blase reicht mir gerade.
Selbstverständlich. Aber es ist auch nichts falsch daran, das irgendwann wieder aufbrechen zu wollen. Als ich im Freundeskreis von meinem Buchprojekt erzählte, sagte ein junges Elternpaar sofort, dass es sie unglaublich erleichtern würde, wenn sich ihre Last auf mehr Menschen verteilen würde und sie das nicht als Einzelkämpfer machen müssten. Aber es gab auch andere, die meinten: Wir empfinden es als gute Form. Aber es ist eben weder natur- noch gottgegeben – nur darum geht es mir. Ich will niemanden angreifen.
Sie berichten in dem Buch auch von Ihren Reisen nach Westafrika, die Ihre These stützen.
In Ghana zum Beispiel kümmern sich Tanten, Onkel und Großeltern in viel größerem Maße um Kinder, als das bei uns der Fall ist. Auch große Geschwister fühlen sich für die kleineren mitverantwortlich. Das nimmt viel Druck von der Mutter, von der gerade hierzulande enorm viel erwartet wird.
Es gibt auch ganz andere Formen des Zusammenlebens, etwa in China …
Die Volksgruppe der Mosuo, die an der Grenze zu Tibet leben, sind zum Beispiel matrilokal organisiert, das heißt, die Familie gruppiert sich um die Frauen herum. Anstatt auszuziehen, bleibt die jüngere Generation ein Leben lang im Haushalt ihrer Mutter. Dazu pflegen die Mosuo eine Art "Besuchsehe". Die jungen Frauen empfangen tage- und nächteweise Männer, leben aber niemals mit ihnen zusammen. Kinder, die aus diesen Verbindungen entstehen, werden von den Brüdern der Frauen aufgezogen. Und wo keine Ehe, da auch keine Scheidung. Durch diese Trennung von sexuellen und familiären Beziehungen sind die Familien der Mosuo einzigartig stabil.
Gibt es noch Beispiele aus anderen Kulturen, die Sie als augenöffnend empfunden haben?
Schaut man über den westeuropäischen Tellerrand hinaus, begegnen einem schnell andere Vorstellungen von Fürsorge und Verwandtschaft. Da ist zum Beispiel die lateinamerikanische "compadrazgo", eine Art Co-Elternschaft: Erwachsene übernehmen die Verantwortung für die Kinder von Freunden und deren Wohlergehen. Sie tun das nicht anstelle, sondern zusätzlich zu deren Eltern. Davon könnten wir uns doch auch inspirieren lassen. Auch als älterer Mensch ohne Kinder und Enkel ist man nicht dazu verurteilt, einsam zu sein.
Sie erzählen in Ihrem Buch von einem Freund, der zwei Nachbarskinder adoptiert hat und sich die Betreuung mit der leiblichen Mutter und einem älteren Freund teilt.
Ja, das ist für mich ein gutes Beispiel für eine gelungene Familie. Ich glaube, danach sollten wir streben, anstatt uns mit dem Ideal der "intakten" Familie zu stressen. Eine Patchwork-Sippe oder eine alleinerziehende Mutter mit ihren Kindern kann genauso eine gute Familie sein wie Mama, Papa und zwei Kinder.
Ist die klassische Familie dann für Sie ein Auslaufmodell?
Das nicht. Aber ich bin mir sicher, dass es in Zukunft mehr Arten des Zusammenlebens gibt, die von Anfang an anders angelegt sind. Dass sich zum Beispiel Frauen zusammentun und sich gemeinschaftlich um ihre Kinder kümmern. Ich kenne auch zwei Paare, das eine mit Kindern, das andere ungewollt ohne, die gern zusammen in ein Haus ziehen würden, damit die Eltern Entlastung bekommen und das kinderlose Paar Kontakt zu Kindern.
Auch Sie haben Ihre eigene "gelungene Beziehung" gefunden: Sie leben inzwischen mit Ihrer besten Freundin und deren kleinem Sohn zusammen. Haben Sie noch einen Rat für andere Eltern?
Ich fände es schön, wenn mehr Menschen abseits der existierenden Muster denken würden. Wir haben das Privileg, uns aussuchen zu können, wie und mit wem wir unser Leben verbringen. Es steht nirgends geschrieben, dass man Kinder bekommen muss, wie eine Familie auszusehen hat, dass ein Paar zusammenleben oder dass man ein Paar sein muss, um Eltern zu sein. Das darf und sollte man alles mal hinterfragen. Und sich trauen, zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen.
Anne Waak
wurde 1982 in Dresden geboren und hat in Berlin und Paris Literaturwissenschaften und Kulturwissenschaften studiert. Heute lebt sie in Berlin.