Shari und André Dietz gehen offen damit um, dass ihr zweites Kind mit dem Angelman-Syndrom zur Welt kam. Die kleine Mari kann nicht sprechen und ist geistig, schwer behindert – keine einfache Situation. Wir wollten mit Shari über Inklusion sprechen und wie die Idee zu ihrem Kinderbuch entstanden ist, dass sie zusammen mit ihrem Mann geschrieben hat. In "Ich bin MARI" (ars Edition) beschreiben sie die Welt aus den Augen ihrer Tochter und geben dem:der Leser:in die wichtige Botschaft mit auf den Weg, dass wir alle einzigartig sind und jeder Mensch etwas Besonderes ist!
ELTERN: Liebe Shari, mit vier Kindern und zwei Hunden seid ihr eine echte Großfamilie. Was sind die wichtigsten Eigenschaften, die Eltern haben sollten, die sich viele Kinder wünschen?
Shari Dietz: Gelassenheit und kein ständiges Streben nach Perfektion – das müssen wir auch oft noch lernen (lacht) Geschwister geben sich wahnsinnig viel, aber es ist eben auch laut, wild und chaotisch. Immer. Das muss man mögen! Und starke Nerven sind natürlich goldwert.
Eure Tochter Mari kam mit einem Gendefekt zur Welt. Wie habt ihr die Diagnose angenommen?
Die erste Zeit war wirklich schwer. Jeder von uns beiden hatte mal ein echtes Tief. Und auch heute gibt es Tage, da sind wir betrübt. Glücklicherweise werden die aber immer seltener. In der ersten Zeit haben wir viel gehört: Vom Universum bis hin zu Gott war alles dabei. Daran glauben wir aber nicht! Wir sind uns sicher, dass man mit viel Liebe und Verständnis und dem sogenannten Staffelholz, dass jede:r mal übernehmen muss, alles schaffen kann! Basis dafür ist natürlich, dass man sich mit viel Verständnis und Liebe begegnet – das ist bei uns glücklicherweise noch nie ein Problem gewesen.
Wer oder was hat euch damals Mut gemacht?
In erster Linie unsere Kids. Weil die uns gezeigt haben: alles ist wie immer. Unser Leben geht weiter. Nur weil sich die Zukunft anders gestaltet, als wir uns das ursprünglich vielleicht vorgestellt haben, ist das nicht unbedingt schlecht. Aber auch unsere Familie und Freund:innen. Es haben sich so viele Menschen um uns gekümmert und uns das Gefühl gegeben, dass wir nicht allein sind. Das war so bewegend!
Wie habt ihr mit euren anderen Kindern über die Situation gesprochen?
Wir hatten zum Zeitpunkt der Diagnose drei Kinder. Unser ältestes Kind war vier. Und klar, wir haben versucht, ihm zu erklären, was Mari hat und warum wir auf einmal sehr traurig waren, richtig verstanden hat er es aber nicht. Denn klar: Mari war ja noch immer Mari und hatte sich ja – nur aufgrund von der Diagnose – für unseren Sohn nicht verändert.
Was meint ihr, wie spricht man am besten mit Kindern über das Thema Behinderung?
Viel mit ihnen über Vielfalt sprechen und natürlich: Unser Kinderbuch vorlesen!
Apropos Kinderbuch, wo und wann ist die Idee zu "Ich bin MARI" entstanden?
Wir haben sehr lange darüber nachgedacht, einen "Wie gehe ich mit Mari / Behinderung um"- Ratgeber ("How to" oder "Behinderung für Dummies") für andere Kinder zu schreiben. Richtig konkret ist dieser Gedanke aber erst geworden, als uns zeitgleich ein paar Verlage angefragt haben, genauso ein Kinderbuch zu schreiben. Den richtigen Anfang für das Buch hat André dann in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gemacht. Das Grundgerüst stand und wir alle waren sofort begeistert.

Wow, aus der Nacht-und-Nebel-Aktion ist ein tolles Familienprojekt entstanden! Was hat der Schreibprozess mit euch gemacht und was war besonders emotional für euch?
Das Schreiben hat gar nicht so viel mit uns gemacht. Was uns aber wirklich bewegt hat: Wir haben in unserem letzten Urlaub eine kleine Lesung mit dem Buch und anderen Urlaubsgäst:innen im Hotel gemacht. Es war so wunderbar zu sehen, wie interessiert die Kinder an Maris Geschichte waren und wie sie nach der Lesung Mari ganz anders – viel aufgeschlossener – begegnet sind. Unsere Idee ist aufgegangen und das macht uns wahnsinnig glücklich.
Gibt es etwas, das ihr anderen Eltern mit auf den Weg geben würdet, die bereits wissen, dass ihr Kind mit einer Behinderung auf die Welt kommen wird?
Wir sind vorsichtig mit Tipps, aber wir können sagen, dass – auch wenn das Leben ab diesem Punkt anders laufen wird als vielleicht geplant – eine Diagnose nicht das Ende ist.
Fast alle Eltern kennen das Gefühl, ihre Aufmerksamkeit nicht gerecht verteilen zu können. Wie geht ihr mit solchen Gefühlen um?
Das Gefühl, dem Kind nicht gerecht werden zu können, verspüren denke ich wirklich alle Eltern. Mit einem Kind, mit zwei, aber eben auch mit fünf oder sechs Kindern. Das hat bei uns aber oft mehr damit zu tun, dass wir struggeln mit Arbeit und Kids. Ansonsten ist es wichtig, dass die Kinder lernen, dass man auch nur ein Mensch mit zwei Händen ist. Am Ende des Tages bekommt hier JEDE:R – jedes Kind und (nicht zu unterschätzen), auch wir als Eltern – seine Quality time und auch mal volle und alleinige Aufmerksamkeit.
An welchen Stellen wünscht du dir Veränderungsmöglichkeiten für eine inklusivere Gesellschaft?
Schön wäre, wenn sich einfach jede:r – vor allem jede:r Arbeitgeber:in – mehr Gedanken darüber machen würde, was für ihn:sie Vielfalt ausmacht. Wann er:sie zuletzt mit jemandem gesprochen hat, der:die anders ist. Der:die andere Bedürfnisse hat oder vielleicht anders aussieht. Gibt es Möglichkeiten, wie man diesen Menschen unterstützen kann? Toll wäre, wenn wir mehr Vielfalt leben. In unserer Arbeitswelt, im Fernseher, im Supermarkt, in der Schule oder in der Kita. Außerdem kann die Politik nicht einfach sagen: "Wir machen jetzt Inklusion!", gleichzeitig aber nicht ausreichend Geld, Räumlichkeiten und ausgebildetes Personal zur Verfügung stellen. Und ganz wichtig:
Inwiefern trägt euer Umfeld dazu bei, dass Mari sich mit ihrer Behinderung nicht ausgegrenzt fühlt und spürt, dass sie ein wertvoller Teil der Gesellschaft ist?
Unsere Freund:innen und unsere Familie leben Inklusion. Mari ist überall gerne gesehen, darf dabei sein, wird gefüttert, gewickelt oder mit einem Waschlappen abgewischt. Und das alles mit einer unfassbaren Selbstverständlichkeit. Das macht uns sehr glücklich! Unsere Kids haben so viele, wirklich coole Freund:innen, die Mari nehmen, wie sie ist. Die sie nicht verhätscheln, ihr trotzdem mit so viel Liebe und Akzeptanz begegnen. Wir sind so stolz auf all diese Kinder (und ihre tollen Eltern), die Inklusion mit uns leben.