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Interview Familien im Dauer-Ausnahmezustand: „Wer eine Krise durchgemacht hat, lernt, mit neuen Krisen umzugehen“

Kleiner Junge schaut sehnsüchtig aus dem Fenster
© Vladimir Vladimirov / iStock
Fast ein Jahr Pandemie – und noch immer gibt es keine nachhaltigen Konzepte für Schulen und Kitas. Kindern fehlen die gewohnte Struktur sowie der unbeschwerte Kontakt mit Großeltern und Gleichaltrigen in der Freizeit. Eltern werden mit der Vereinbarkeit von Kinderbetreuung, -beschulung und Arbeitsalltag größtenteils alleingelassen. Was macht das mit uns? Wir haben mit dem Politikwissenschaftler und systemischen Berater und Therapeuten Dr. Matthias Finkemeier darüber gesprochen.

Dr. Finkemeier, fast ein Jahr ist es jetzt her, dass wir uns über die möglichen Folgen für Familien im ersten Corona-Lockdown unterhalten haben. Damals waren Sie noch recht optimistisch und sahen auch Chancen. Wie schätzen Sie die Lage jetzt ein?

Dr. Matthias Finkemeier
© Dr. Matthias Finkemeier

Wir befinden uns in einer gefühlt nicht enden wollenden Spielzeit-Verlängerung. Während im ersten Corona-Lockdown die Spielregeln noch entwickelt wurden, war zumindest ein Ende, das Licht am Ende des Tunnels in Sicht. Viele dachten, mit ein paar Wochen sozialer Isolation sei es getan. Doch mit der Zeit stellte sich heraus, dass wir einen längeren Atem brauchen.
 
Corona hat familiäre und gesellschaftliche Strukturen grundsätzlich verändert: Innerhalb eines Jahres ist Homeoffice für viele zur Normalität geworden, Kinder werden online beschult, manche Eltern sind von Kurzarbeit oder einem Arbeitsplatzverlust betroffen. Hinzu kommt, dass fast alle öffentlichen Orte der Begegnung weggefallen sind und eine kulturelle Wüste entstanden ist. Aber vor allem die teils gegensätzlichen Maßnahmen der einzelnen Landesregierungen haben die Unsicherheit für Familien noch weiter verstärkt. Sicher ist es wichtig, evidenzbasiert zu handeln – und demnach ist es ein Risiko, Schulen grundsätzlich offen zu halten. Aber es kostet eben auch einen hohen Preis, sie zu schließen.
 
Trotz aller Maßnahmen und Einschränkungen bleibt die Bedrohungssituation für die meisten Menschen abstrakt. Und die Ungewissheit, wie lange der Lockdown tatsächlich noch anhält, kann etwaige Stressoren verlängern. Es gibt praktisch keine Vorerfahrungen, die zur Bewältigung einer solchen komplexen Belastungssituation herangezogen werden können. Dennoch ist klar: Wer eine Krise durchgemacht hat, lernt dabei gleichzeitig, mit neuen Krisen umzugehen.

Die Politik macht es Familien nicht leicht. Anders als beim ersten Lockdown im März 2020 müssen sie diesmal die Entscheidung, ihr Kind in die Notbetreuung zu geben oder nicht, vielerorts selbst treffen und verantworten. Was macht das mit Eltern?

Kinder einer großen Familie nehmen im Lockdown das Wohnzimmer auseinander
© RyanJLane / iStock

Eltern können durch eine solche Handlungsfreiheit schnell in Loyalitätskonflikte geraten. Einerseits wollen sie gegenüber ihrem Arbeitgeber Einsatz zeigen. Andererseits ließe sich das Infektionsgeschehen kaum eindämmen, wenn von einer solchen Notbetreuung übermäßig Gebrauch gemacht würde.
 
Im Gegensatz zum ersten Lockdown werden vielerorts keine einheitlichen Kriterien formuliert, wann Kinder in die Notbetreuung können. In manchen Bundesländern muss sie gar beim Jugendamt beantragt und mit einer Gefährdung des Kindeswohls begründet werden. Dies erhöht die Schwelle für viele Hilfesuchende. In Hessen obliegt die Entscheidung beispielsweise den Eltern.
 
Die Regierungen übernehmen die Verantwortung für die Rahmenbedingungen. Wenn der Rahmen es hergibt, sollten Eltern von Entlastungsmöglichkeiten Gebrauch machen können. Eine Wahlfreiheit wirkt sich grundsätzlich erstmal positiv aus, um individuellen Gegebenheiten gerecht zu werden.

Viele Eltern sind gerade ausgebrannt. Der Spagat zwischen Arbeit und Familienalltag im andauernden Ausnahmezustand zieht sich schließlich schon fast ein Jahr lang hin. Gibt es Strategien, wie sie sich jetzt vor dem Burn-Out schützen können?

Der Anteil von Personen mit depressiven Symptomen hat von neun auf 18 Prozent zugenommen – die Entwicklung bietet durchaus Anlass zur Sorge. Spannend wäre hier einmal diejenigen zu fragen, die keine depressiven Symptome entwickelt haben. Was haben die (anders) gemacht? Was können wir von ihnen lernen? Sie würden wahrscheinlich nicht nur vom Rausgehen an die frische Luft berichten, was sicher eine gute Idee ist, weil Bewegung zu einem Ausgleich von Körper und Geist führt.
 
Eine positive Sichtweise der Welt wäre ebenfalls hilfreich. Im „Journal of Positive Psychology“ wurde jüngst eine Untersuchung der Universität Surrey veröffentlicht, wonach es hilfreicher ist, „nach vorne zu blicken und das wertzuschätzen, was zurzeit positiv im Leben ist, als der Vergangenheit nachzutrauern.“ Dafür schlage ich Menschen in der Beratung vor, ein Dankbarkeitstagebuch zu führen: Sie nehmen sich jeden Tag einen Moment Zeit für sich, um über den Tag nachzudenken und drei Dinge aufzuschreiben, für die sie dankbar sind. Diese Übung haben manche Menschen umgesetzt und manche nicht. Diejenigen, die es ausprobiert haben, haben gute Erfahrungen damit gemacht.

Ein Mutter arbeitet im Homeoffice, ihre zwei Kinder beschäftigen sich auch digital
© golero / iStock

Menschen, denen es möglich ist, sollten eigene Rückzugsmöglichkeiten für sich in Anspruch nehmen. Ein Buch, das sie schon länger lesen wollten oder endlich mal den Kleiderschrank auszumisten oder sich ein außergewöhnliches Gericht zu kochen. Manche Menschen nutzen Entspannungstechniken wie Traumreisen, geleitete Fantasien und Meditation, auch Selbsthypnose ist leicht erlernbar. All dies nimmt Einfluss auf das vegetative Nervensystem und lässt uns bewusster den eigenen Körper und die eigenen Gefühle erspüren. Mit Blick auf die medialen Angebote reicht es völlig aus, sich einmal am Tag zu informieren, anstatt sich ständig berieseln zu lassen. Auch das kann Stress reduzieren.
 
Eine Tagesstruktur gibt Handlungsfähigkeit zurück. In täglichen Familienkonferenzen kann klar besprochen werden, wer wofür zuständig ist und wofür nicht. Auch Tages-Highlights mit der Familie sind hilfreich – wie das gemeinsame Essen, Backen oder ein Spiel, an dem alle teilhaben. Lassen Sie Kinder auch bei der Reihenfolge der Abläufe aktiv mitentscheiden und bieten Sie Wahlmöglichkeiten an.
 
Elternteile, die zu Hause arbeiten, können Übergangsrituale für den Beginn und den Abschluss eines Arbeitstages pflegen. Hier bietet es sich an, beruflich andere Kleidung zu tragen als privat. Sie können auch typische Rituale weiterführen, die für Sie üblicherweise zur Arbeit gehören. Ich denke etwa an das gewohnte Parfüm oder die Brotdose in der Kaffeepause. Auch sollten Sie die Arbeitsutensilien wie beispielsweise den Laptop abends wegpacken. Ein Freund von mir fährt morgens weiter mit dem Rad zur Arbeit – und dann gleich wieder zurück.

In einigen Bundesländern gelten Babys und Kinder inzwischen als Personen. Konkret sind sie also nicht länger von den Kontaktbeschränkungen ausgenommen. Viele Eltern sorgen sich deshalb um das psychische Wohl ihrer Kinder. Ist das berechtigt?

Erfreulicherweise haben einige Bundesländer schon die Forderung des Kinderschutzbundes aufgenommen, Kinder von den Kontaktbeschränkungen auszunehmen. Sie sind nun einmal besonders auf den Umgang mit Gleichaltrigen angewiesen. Im vergangenen Sommer haben wir uns für eine Weile wieder in Richtung der „alten Normalität“ bewegt und mehr Kontakte ermöglicht. Die positiven Effekte einer solchen Verschnaufpause sind nicht zu unterschätzen. Manches davon sollten wir uns öfter in Erinnerung rufen.

Ein Vater befindet sich in einer Videokonferenz, seine beiden Kinder schauen zu
© AleksandarNakic / iStock

Dennoch müssen wir die Kinder wieder dringend mehr miteinander in Kontakt bringen. Der Leiter der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche an der Uni Leipzig empfiehlt mehr Wechselunterricht an Schulen, da selbst ein paar Stunden pro Woche strukturgebend und für die Kinder bereichernd sein können. Schulen müssen also nicht unbedingt komplett geschlossen, sondern nur die Präsenzpflicht ausgesetzt werden. Die Lehrerkräfte sollten ihre Kinder regelmäßig sehen, um mitzubekommen, wie es ihnen zuhause geht. Dies ist auch über Videokonferenzen möglich – mit zusätzlichen Anreizen und Angeboten.
 
Durch die Kontaktbeschränkungen hat der Medienkonsum fast aller Kinder zugenommen. Es gibt manchmal einfach keine andere Möglichkeit, als sie vor dem Fernseher zu „parken“ oder mit dem Handy spielen zu lassen. Kontakte über soziale Medien sind für Kinder je nach Altersgruppe gleichzeitig enorm wichtig, um mit Freunden im Austausch zu bleiben. Hier können digitale Treffen helfen, um wieder ein Gemeinschaftsgefühl entstehen zu lassen.

Von Seiten der Eltern ist eine achtsame Kommunikation gefragt, damit sich Emotionen nicht von den Bezugspersonen auf die Kinder übertragen. Erwachsene können Kindern wichtige Orientierung stiften, wie sie mit der Situation umgehen. Kindern, die sich vor dem Virus fürchten, ist es wichtig, klar zu machen, dass sie und ihre Familie nicht unmittelbar durch das Virus bedroht sind und sie sich gut davor schützen können. Es ist normal, dass diese Ausnahmesituation etwas mit uns macht und es darf uns mitunter schwerfallen. Eltern sollten aber darauf achten, ihre eigenen Sorgen und Ängste nicht an die Kinder weiterzugeben, sondern diese bei sich zu belassen. Der Umgang etwa mit beruflicher oder finanzieller Ungewissheit gehört ins Elternzimmer.
 
Die Fragen der Kinder würde ich so konkret wie möglich beantworten und deren Leid würdigen. Es hilft schon weiter, ihre Sorgen ernst zu nehmen und ihre Gefühle zu bestätigen. Sollten eigene Hilfskonzepte nicht greifen, können Beratungsstellen weiterhelfen. Es gibt viele Hilfsangebote zur Unterstützung der psychischen Gesundheit – auch und gerade in Corona-Zeiten.

Sehen wir Ihrer Meinung nach in fünf bis zehn Jahren Kinder, die langfristig mit den sozialen und psychischen Folgen der Corona-Beschränkungen zu kämpfen haben? Und gibt es etwas, dass wir jetzt tun können, um gegenzusteuern?

Ein kleines Mädchen presst von einer Seite mit der Hand gegen eine Fensterscheibe, die Großmutter von der anderen
© RyanJLane / iStock

Eine Hamburger Studie ergab, dass das Risiko für eine psychische Auffälligkeit bei Kindern und Jugendlichen von 18 auf 31 Prozent angestiegen ist. Viele Kinder zeigen mehr Impulsivität und Wut, manchen fällt es schwerer, sich zu konzentrieren. Dabei ist die Entwicklung von Kindern in diesen Zeiten umso mehr von individuellen Faktoren, dem Alter und der sozialen Situation abhängig. Die Coronakrise wirkt laut der Kinder- und Jugendpsychiaterin Kathrin Sevecke wie ein Brennglas: „Dort, wo es vorher schon schwierig war, ist das deutlich befeuert worden.“ Sorgen mache ich mir um Familien, in denen Gewalt oder Sucht schon über einen längeren Zeitraum an der Tagesordnung waren. Der direkte Kontakt von Familienhelfern zu den Familien wurde mancherorts ausgesetzt oder durch andere Kommunikationsformen ersetzt, sodass die Familienhilfe nicht mehr in die Wohnungen kam. Von häuslicher Gewalt betroffene Kinder wurden dann schlicht nicht mehr gesehen und dies könnte fatale Folgen haben.
 
Aus der Schule bekam ich folgende Aufgabe mit: Stellt euch vor, ein Außerirdischer blickt auf die Welt vor und während Corona. Was sieht er da? Was machen die? Was ist anders? Was hat sich nicht verändert? Eine Übung, die nicht nur für Kinder interessant sein dürfte. Sie können ihre Kinder auch ein Bild dazu malen lassen, wie sie sich die Zeit nach dem Lockdown vorstellen. Dies würde eine positive und sinnstiftende Zukunftsvision unterstützen.

Im Idealfall behalten Kinder aus einem grundsätzlich stabilen Familiensystem die Situation im Lockdown positiv in Erinnerung: Sie mussten seltener zur Schule, die Eltern waren häufiger zu Hause und hatten mehr Zeit für sie, familiäre Rituale fanden häufiger statt. Oder sie blicken in fünf oder zehn Jahren mit Stolz zurück, dass sie dazu beigetragen haben, das Virus zu bekämpfen. Sie haben ihre individuellen Bedürfnisse aus Solidarität für die Gemeinschaft zurückgestellt. Eine Normalisierung, dass alle anderen ähnlichen Herausforderungen gegenüberstanden, befördert ein Wir-Gefühl. Dies wirkt sich in der Regel entlastend aus und bettet die Situation in einen gesellschaftlichen Kontext ein. Offenbar hat jede Generation ihre eigenen Herausforderungen zu meistern. Die Kriegsgeneration kann von Ausgangssperren noch ein Lied singen, die mit Sorgen um Leib und Leben einhergingen. Oder stellen wir uns vor, die Pandemie wäre im vergangenen Jahrhundert passiert, dann hätte es überhaupt kein Homeschooling gegeben.
 
Niemand kann heute sagen, wie die „neue Normalität“, von der häufig die Rede ist, genau aussehen wird. Ist es mit ein paar Tagen mehr Homeoffice und mehr Laptops in den Schulen schon getan oder sind größere Lösungen gefragt? Für den Schulbereich braucht es im digitalen Zeitalter neue Zugangswege, bei denen die sozialen Kompetenzen mitbedacht und gezielt gefördert werden. In der Arbeitswelt können längerfristig neue Arbeitszeit- und Vertragsmodelle erprobt werden, um Arbeitnehmern im 21. Jahrhundert mehr Spielräume zwischen Beruf und Familienleben zu ermöglichen.

Dr. rer.pol. Matthias Finkemeier, geb. 1983, ist Dozent, Systemischer Therapeut und EAP-Berater in Heidelberg und Frankfurt am Main. Er hat Weiterbildungen in Systemischer Beratung, Systemischer Therapie und Gesprächsführung nach Milton Erickson absolviert (DGSF, M.E.G.). Dr. Finkemeier war tätig als Internatslehrer, Erzieher und in der Jugendhilfe.

Eigenes Kinderzimmer

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