Als lesbische Mutter mit Kind ist es Kinderliedsängerin Nica Neulich sehr wichtig, mit ihren Songtexten möglichst alle Kinder – und deren Eltern – abzuholen. In ihrem Album "Die Gitarre mit ins Bett", das am 24. Juni 2022 pünktlich zum Pride Month erscheint, nennt sie in zwei Liedern explizit "Mama und Mami" und "Papa und Papi" als Elternteile. Doch auch darüber hinaus ist es der queeren Sängerin wichtig, Geschlechterstereotype und festgefahrene Rollenbilder nicht zu reproduzieren. Im Interview erzählt sie, warum Diversität in Kindermedien so selten ist, wie schwer es wirklich ist, das eigene Kind gendergerecht zu erziehen und auf welche Resonanz sie mit ihrer Musik stößt.
ELTERN: Nica Neulich, wie war das bei Ihnen, fühlten Sie sich damals als Kind vom Inhalt der Songtexte abgeholt und gesehen?
Das ist in der Retrospektive ziemlich schwierig zu sagen, finde ich. Ich denke aber schon, ich gehe nicht davon aus, dass ich diese CDs freiwillig gehört hätte, wenn ich mich nicht gesehen oder abgeholt gefühlt hätte. Ich erinnere mich aber ehrlich gesagt darüber hinaus nicht mehr so viel an die Kindermusik von damals. Wenn ich aber heute mit meiner Tochter die alten Musikkassetten von damals höre, dann weiß ich die Texte immer noch auswendig. Deshalb gehe ich davon aus, dass das schon einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen hat.
Würden Sie sagen, dass es problematisch ist, wenn Kinderlieder klassische Rollenbilder und Stereotype reproduzieren?
Ich weiß gar nicht, ob ich das per se als großes Problem bezeichnen würde. Ich denke eher, man muss als Elternteil sensibel damit umgehen und mit Kindern auch über die Inhalte sprechen. Ich finde, klischee- und rollenfreies Erziehen, also das Kind genderneutral bzw. gendergerecht zu erziehen, gestaltet sich als unheimlich schwierig, weil man mit dem Kind ja nicht in einer Blase lebt, sondern weil es beispielsweise Kontakt mit Medien hat. Nicht nur mit Kinderliedern, sondern auch mit Büchern, Hörspielen, TV-Serien, aber natürlich auch mit anderen Kindern betreut wird, wenn es zum Beispiel im Kindergarten oder in der Schule ist.
Da gibt es unheimlich viele Faktoren, auf die man als einzelne Person überhaupt keinen Einfluss hat. Deswegen würde ich nicht sagen, dass es ein Problem ist, aber sehr wohl dazu werden kann, wenn man sein Kind permanent und völlig unreflektiert mit solchen Rollenklischees konfrontiert. Wenn man es aber ein bisschen als Elternteil steuert und auch mal mit dem Kind darüber spricht, dann können Kinder meiner Meinung nach solche Rollenklischees schon sehr früh auch selbst erkennen und einordnen. Wenn zum Beispiel in einem Lied ein Junge über den Fußballplatz rennt und Tore schießt, kann man darüber sprechen, dass das ein Mädchen genauso gut machen könnte. Das hilft Kindern dabei, solche Dinge anders zu sortieren und einzuordnen.
Auf Ihrer Webseite heißt es: "Ich mache Musik für Kinder, für Große, für Kleine, für Dicke, für Dünne, für Kinder mit roten Haaren, für Kinder mit Brille, für Kinder mit zwei Mamas, für Mädchen, die gerne Skateboard fahren und für Jungs, die gerne tanzen. Und auch für alle anderen." Wie werden Kinder denn sonst in Kinderliedern dargestellt?
Mit diesem Text wollte ich einfach klar machen, dass ich Musik für alle mache. Ich möchte gerne alle Kinder mitnehmen, egal, welchen Hintergrund sie haben, egal, wie sie aussehen. Meine Tochter hat zum Beispiel eine Brille und ist oft die Einzige, die eine in ihrem kindlichen Umfeld trägt und das findet sie manchmal doof. Solche Sachen fallen mir ein und dann schreibe ich auch mal ein Lied über ein Kind, das seine Brille verloren hat.
Und dann ist es mir natürlich auch ein besonderes Anliegen, Lieder mit zwei Mamas zu schreiben, da ich ja selbst Mutter in einer Regenbogenfamilie bin. Deswegen gibt es auf meinem Album auch zwei Songs, in denen einmal von Papi und Papa gesprochen wird und einmal von Mami und Mama, weil das oft die Bezeichnungen sind, die Kinder in Regenbogenfamilien für ihre Eltern benutzen. Das tue ich, um diese Lebensrealität von Kindern auch ein bisschen in der Musik darzustellen. Und ich möchte ein weiterer Teil dieser Bewegung sein, ich bin ja nicht die Einzige, die solche Lieder macht. Ich möchte diese Texte möglichst vielfältig gestalten, sodass sich auch möglichst viele Kinder darin repräsentiert fühlen.
Sind manche Kinder eine Seltenheit? Zum Beispiel die mit Brille oder die mit einer anderen Hautfarbe als weiß?
In einem auditiven Produkt wie Liedern sind Dinge, wie die Hautfarbe, schwierig zu thematisieren. Aber ich weiß, dass Kinder mit Brille oder Kinder of Color oder auch Kinder mit Behinderung in Kindermedien immer noch relativ selten auftauchen. Es gibt definitiv Minderheiten bei Kindern, was beispielsweise das Aussehen betrifft oder Familienkonstellationen, die nicht besonders repräsentiert sind in den Medien, egal ob generell oder speziell für Kinder. Ebenfalls beobachte ich bei Kindermedien im Allgemeinen die stark ausgeprägten Klischees, zum Beispiel ist alles Actionreiche, wie Fußball oder Piraten, eher mit Jungs als Identifikationsfigur versehen und beim Thema Prinzessin eher mit Mädchen. Wie gesagt, ich finde so etwas per se gar nicht schlimm, ich finde dann nur, dass man hier auch andere Angebote ergänzen muss, die diese Klischees umdrehen oder es gleich genderneutral formulieren.
Und wie werden Eltern repräsentiert, wenn sie eine Rolle in einem Kinderlied haben?
Soweit ich das beobachten kann, wird häufig von Mama und Papa gesprochen, wenn sie denn in Liedern vorkommen, oder einfach "Eltern". Ich finde es dann toll, wenn explizit von gleichgeschlechtlichen Eltern die Rede ist, also das man das im Song auch hört, auch wenn es vielleicht nicht unbedingt das Hauptthema im Lied ist – quasi wie in einem Buch, in dem beispielsweise zwei Mamas ganz natürlich in der Rahmenhandlung vorkommen und so gelesen werden.
War diese fehlende Repräsentation auch der Grund für Ihre Entscheidung, ein Album zu veröffentlichen?
Ich würde nicht sagen, dass ich mir auf die Fahne geschrieben hätte, Gender-Klischees oder Familienvielfalt in Kinderliedern zu verarbeiten, es hat sich eher einfach so ergeben. Es ist einfach das Prinzip, nach dem ich mein Leben lebe und mit anderen Menschen umgehen möchte, sodass sich das dann ganz automatisch auch in meinem Album widerspiegelt. Zumindest hoffe ich, dass es sich so widerspiegelt, es ist nicht immer so einfach, etwas frei von eigenen Klischees umzusetzen. Man ist dann doch immer sehr beeinflusst davon und es ist manchmal auch Arbeit, von außen drauf zu schauen, um zu sehen, was man aufbrechen kann bzw. sollte, oder was man vielleicht auch versehentlich reproduziert, auch wenn man es gar nicht möchte.
Wie gehen Sie da vor?
Beim Schreiben habe ich oft eine "Hookline" im Kopf, also beispielsweise Zeilen, die sich dann später zum Refrain ausbauen. Oft sind die schon kombiniert mit einer Melodie. Und dann versuche ich Metaphern zu finden und den Text zu schreiben und dabei parallel darauf zu achten, eben nicht etwaige Klischees zu reproduzieren. In einem Song auf dem Album mit dem Titel "Schnupsegal" geht es darum, dass ein Mädchen alles tun kann, was auch ein Junge kann. Also nach dem Motto: "Junge oder Mädchen, das ist doch egal." Und dann gibt es noch Songs wie "Mit der Gitarre ins Bett", da ordne ich Kindern Attribute zu, die gesellschaftlich tendenziell eher weiblich oder männlich gelesen werden. Da geht es dann um einen Jungen und seinen Glitzerstift und ein Mädchen und ihr Piratenschiff.
Gibt es auch andere Liedermacher:innen, die sich um das Thema Diversität bemühen? Wie ist da das Verhältnis?
Ich denke, dass das Thema Diversität inzwischen bei vielen Liedermacher:innen angekommen ist, Suli Puschban zum Beispiel leistet da sehr tolle Arbeit in dem Bereich. Das Problem ist nur, dass diese ganze Musikszene relativ unbekannt ist in der breiten Masse und dann doch über die Streamingdienste immer wieder die Sachen aufgerufen werden, die Klischees reproduzieren. Ich glaube auch, da ist es so ein bisschen die Frage, in welcher sozialen Blase man da selbst unterwegs ist.
In meinem Umfeld ist das den Eltern schon ein Anliegen, aber schaut man über den eigenen Freundeskreis hinweg, dann ist das eben für viele Menschen nicht unbedingt ein Thema. Zum einen wird nicht von allen Leuten darauf geachtet, das eigene Kind möglichst genderneutral zu erziehen, zum anderen ist es meiner Meinung nach für viele Menschen auch eine Sache von Gewöhnung: Was kennt man selbst von früher? Das setzt man natürlich auch gerne den eigenen Kindern vor. Und es ist ja auch etwas Schönes, wenn sich solche Sachen wie Kinderlieder quasi vererben. Aber dadurch darf auch nicht die gesellschaftliche Entwicklung stehen bleiben und Dinge reproduziert werden, die eigentlich schon längst veraltet sind.
Inwiefern ist Queerness bei Ihnen zu Hause ein Thema?
Da meine Partnerin und ich lesbisch sind, wächst unsere Tochter ganz selbstverständlich mit zwei Mamas auf und lernt mit den Begrifflichkeiten umzugehen. Ebenso engagieren wir uns politisch, sind beispielsweise Mitglieder beim Lesben- und Schwulenverband Baden-Württemberg und ich organisiere unter anderem auch Themenabende für Regenbogenfamilien.
Das ist ein sehr präsentes Thema in unserem Leben, einfach, weil ich der Meinung bin, dass wir noch nicht an dem Punkt in der Gesellschaft angekommen sind, in dem man nicht mehr für Sichtbarkeit und Akzeptanz kämpfen muss. Viele Dinge sind mittlerweile gleichberechtigt, aber es ist trotzdem einfach noch nicht gesamtgesellschaftlich "normal". Es gibt immer noch ein paar politische Baustellen, für die es sich lohnt, aufzutreten und Sichtbarkeit zu schaffen.
Wie ist die Resonanz auf deine Queerness bei den Kindern und Eltern?
Für die Kinder ist das überhaupt kein Thema, die sind in der Regel zwischen vier und acht Jahre alt und super offen, was das angeht. Ich habe in meinem Outfit und auch auf dem Albumcover ein paar "queere Codes" eingebaut, wenn ich zum Beispiel live spiele, habe ich meinen Sidecut in den Regenbogenfarben eingefärbt. Aber es ist jetzt auch nicht so, dass ich auf die Bühne gehe und sage: "Hallo, Kinder! Ich bin Nica Neulich und ich bin lesbisch!" [lacht] Natürlich, wer mich googelt, findet definitiv meine sexuelle Orientierung heraus und wie ich lebe, aber es hat noch kein Kindergarten gesagt, dass man mich deshalb nicht engagieren möchte. Mit den Eltern bin ich darüber noch nie wirklich ins Gespräch gekommen, aber ich gehe davon aus, dass so etwas – zumindest als Künstlerin – kein Problem mehr darstellt.