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Corona-Tagebuch einer Mutter „Liebe Frau Merkel, ich fühle Sie!“ – der solidarische Brief einer Mutter

Eine Frau schreibt einen Brief
© Rawpixel.com / Shutterstock
Unsere Autorin hat einen Brief an Frau Merkel geschrieben. Nach einem langen, ermüdenden Jahr hat sie seit der Entschuldigung der Kanzlerin das Gefühl, wieder mit ihr in einem Boot zu sitzen.

Liebe Frau Merkel,

vor ein paar Tagen standen Sie hinter ihrem Pult und taten, was getan werden musste: Sie entschuldigten sich bei all jenen, die Sie mit Ihrer Oster-Entscheidung verwirrt, entmutigt und überfordert haben. Auch wenn ich mich niemals bei einer Nation entschuldigen musste, kenne ich das Gefühl, das Sie gehabt haben müssen. Wie oft habe ich in den letzten Monaten halbgare Entscheidungen getroffen, einfach nur, weil ich irgendeine Entscheidung treffen musste. Und wie oft habe ich hinterher festgestellt, dass es die falsche war oder die richtige zur falschen Zeit. Fast immer, wenn das passiert ist, standen meine Kinder vor mir, mit wutfunkelnden Augen und ich dachte nur: „Ich kann doch auch nicht mehr. Ich bin nur ein Mensch.“

Auch irgendwie eine Mutter

Passt der Vergleich zwischen Kanzlerin und Mutter? Für viele offenbar nicht. Ich persönlich finde den schon oft gehörten Vorwurf, Sie spielten sich als Mutter der Nation auf, die das Volk wie Kinder behandelt, irritierend. Was wäre schlimm daran? In meiner Welt ist daran eigentlich nur die Vorstellung schlimm, wie man Kinder behandelt oder abwertet. Nach meinem Verständnis von Beziehung und Gleichwürdigkeit zwischen Eltern und Kindern wäre an diesem Vergleich jedenfalls nichts Anrüchiges. Ich versuche als Mutter jeden Tag, die richtige Balance zu finden zwischen der Verantwortung, die ich nunmal trage, und den berechtigten Interessen aller meiner Kinder. Ich handle immer nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne meiner Familie, möchte niemanden entmündigen und niemanden geringer schätzen als mich selbst. Ich höre zu, überarbeite danach meine Gedanken und empfinde meine Kinder ganz sicher nicht als unmündig oder inkompetent. Trotzdem ist es mein und Ihr Job, Entscheidungen zu treffen.

Ich war und bin nicht immer Fan von Ihnen

Um ehrlich zu sein, ich bin auch nicht immer einverstanden mit Ihren Entscheidungen. Ich finde, dass da einiges quergelaufen ist. Es macht mich hilflos, dass meine herzkranken Eltern noch auf ihre Impfung warten, Frisöre wegen der Würde wichtiger sein sollen als Unterricht und wir hier wegen der Notbremse wieder an Ostern alleine sitzen, während die Nachbarn auf Mallorca im Restaurant Tapas schlemmen. Ich würde Ihnen und Ihren Kollegen über so einiges gehörig die Meinung geigen, wenn Sie vor mir stünden. Doch hier und heute geht es mir nicht um harte Fakten oder um politischen Konsens. Es geht mir auch nicht um meine Wut, sondern um das, was meine Teenietochter „Ich fühl dich“ nennt. Das sagt sie immer dann, wenn sie es schafft, sich einmal ganz und gar in mich hineinzuversetzen und meinen inneren Kampf nachzuempfinden. Immer dann, wenn sie für einen kurzen Moment der Reife begreift, dass ich trotz all meiner Fehlbarkeit das Beste für sie möchte und dass ich mich das einiges kosten lasse. Auch – sehr häufig – das Aushalten ihrer Wut. So wie mein großes Mädchen bei mir sehe ich bei Ihnen, was diese Zeiten Ihnen abverlangen, was Sie leisten und wie schwer es sein muss, dabei die Nerven zu behalten. Kurzum: Frau Merkel, ich fühle Sie!

Die Wiederentdeckung des Mitgefühls

Im Grunde sind Sie als Adressat des Briefes fast ein bisschen beliebig. Denn Sie sind ja nur ein Rädchen im Großen Ganzen. Ich hätte diese Zeilen zum Beispiel auch an Herrn Spahn richten können. Ich habe ihn so sehr gefühlt, als er erzählt hat, dass er sich manchmal zuhause auf den Boden legt, einfach nur, um sich zu beruhigen. Oder die Virologen. Ich fühle sie immer, wenn sie ihre Meinung aufgrund neuer Erkenntnisse revidieren und sich dann dafür rechtfertigen müssen, nicht zu jedem Zeitpunkt allwissend gewesen zu sein. Nicht, dass Ihnen das alles erspart werden sollte. Natürlich müssen Sie sich das gefallen lassen, denn eine Vielfalt an Meinungen entspricht dem demokratischen Grundgedanken. Aber mal ganz emotional betrachtet: Eltern kennen das alles. Das erschöpfte auf den Boden Liegen, das Revidieren einer Einschätzung samt aller folgenden Vorwürfe, das Entschuldigen dafür und das Gefühl, es nicht allen recht machen zu können. Wenn ich mir die politischen Meldungen des Tages ansehe, dann ist da zwar einerseits Wut, Angst, Überforderung und Trauer um unsere Pläne. Aber da ist noch etwas. Etwas Wichtiges: Mitgefühl.

Wir können alle nicht mehr

Letzten Endes werden wir alle durchhalten müssen. Ich werde weiter jeden Abend versuchen, den Kindern ihre Sorgen aus dem Kopf zu streicheln, werde Tag für Tag mehr leisten, als man eigentlich leisten kann, werde mit dem Teeniemädchen streiten, das Baby vor Treppenstürzen bewahren, den beiden Mittelkindern Mathe erklären, Oma-fehlt-mir-so-Tränen trocknen und mich schämen, dass es mittags mal wieder nur für Tiefkühlpizza gereicht hat. Ich werde mich manchmal einsam, alleingelassen und ausgebrannt fühlen und am Ende trotzdem überleben. Ich bin mir sicher, diese Palette der Gefühle ist Ihnen nur allzu bekannt. Aber trotz allem Unverständnis über konkrete Entscheidungen werde ich Sie auf diesem ganzen langen Weg fühlen. Ihre Selbstzweifel, Ihre Müdigkeit und Ihre Größe, sich vor einer Nation zu entschuldigen. Ihre Menschlichkeit, Ihre Bemühungen und Ihre Stärke, trotz aller Anfeindungen an jedem einzelnen Morgen aufzustehen und weiterzumachen.

Das ist wahrhaft inspirierend! Danke! Ihre Marie Stadler

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