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Kürzlich war es wieder so weit: Da hatte ich Nächte mit einem Buch verbracht, die noch verbleibenden Seiten gingen gefährlich zur Neige, das Ende stand bevor. Natürlich wollte ich wissen, wie die Geschichte ausgeht, aber gleichzeitig hatte ich Angst, Abschied nehmen zu müssen. Denn Bücher können wie Freunde sein: Manche begleiten uns ein Leben lang. Bücher sind immer für uns da. Mit ihnen zu leben, sie zu lesen, gehört zum Schönsten, was es gibt auf der Welt.
Warum? Vielleicht, weil man in Worten wohnen kann. Weil ein Wort das andere gibt und sich so der eigene Horizont erweitert, und weil wir beim Lesen Erfahrungen machen, wenn auch aus zweiter Hand. Dadurch lässt uns Lesen stärker, klüger und vielleicht sogar freier werden. Lesen macht Spaß, es beflügelt unsere Fantasie und Kreativität. Lesen lässt uns mitfühlen, mitdenken, träumen, es kann trösten, ermutigen und selbst Mutprobe sein. Wer liest, lernt etwas über sich und die Welt. So gesehen hilft Lesen uns zu leben.
Ab sofort im Buchhandel: ELTERN und Carlsens neue Vorlesebücher
Wisst ihr noch?
All das gilt natürlich genauso fürs Vorlesen – schließlich bringt das die Bücher und Geschichten, die Bilder und Worte zu unseren Kindern. Vielleicht habt ihr noch Bilder aus eurer eigenen Kindheit im Kopf, als eure Eltern am Abend auf der Bettkante saßen und euch vorgelesen haben? Womöglich fällt euch ein Lieblingsbuch aus dieser Zeit ein? Oder das Gefühl, das geblieben ist: diese Mischung aus Geborgenheit, Glück und Hochspannung, wenn ihr mit den Figuren mitgelacht und mitgezittert habt und es am Ende im besten Falle hieß: „Noch mal!“
Ich weiß jedenfalls noch gut, wie ich als Kind den Über-Mut der Hundedame Jenny kaum fassen konnte. In „Higgelti Piggelti Pop! Oder: Es muss im Leben mehr als alles geben“ macht sie sich aus ihrem kissengepolsterten, satten Leben auf, um das zu sammeln, worauf es ankommt: Erfahrungen.
Genauso unvergessen ist die Geschichte des Katerjungen, der lästiges Zähneputzen umgeht, lieber auf dem Klo in Heftchen blättert und seine überbesorgte, dauerflötende Mutter nach allen Regeln der Kunst hintergeht: „Kein Kuss für Mutter“. Beides waren Geschenke meiner bücherliebenden Tante. Sie hat sie mir damals vorgelesen und Türen geöffnet in ein ganzes Universum. Dass „Higgelti Piggelti Pop“ von Maurice Sendak ist und „Kein Kuss für Mutter“ von Tomi Ungerer, von zwei der ganz Großen also, war mir als Kind natürlich nicht klar und außerdem vollkommen egal. Aber den Schauder, die Worte und Bilder, den Witz und den Ernst habe ich einfach genossen: „Es muss im Leben mehr als alles geben“. Das hat mich fortan begleitet.
Und heute? Heute ist „Higgelti Piggelti Pop“ gründlich zerlesen, den Buchumschlag gibt es nicht mehr, vergilbte Klebestreifen halten die Seiten notdürftig zusammen. Echte Liebe eben. Und „Kein Kuss für Mutter“ hat nach mir meine Kinder begeistert – sie halten mir das Buch bei Bedarf bis heute unter die Nase. Sie konnten genauso die Erfahrung machen, dass zwischen Buchdeckeln keine gepflegte Langeweile herrscht, sondern Abenteuer und Welt-Entdeckung warten. Und dass Lesen immer auch mit uns und unserem Leben zu tun hat. So etwas vergisst man nicht. Genau darauf kommt es an.
Mal wieder ein Schock: PISA
Zugegeben, es ist der Idealfall, wenn freiwillig, begeistert und unersättlich gelesen wird. Und es ist leicht, das Lesen zu lieben, wenn man die Technik beherrscht – selbstverständlich ist das nicht. Das zeigt unter anderem die PISA-Studie 2018, die vergangenen Dezember veröffentlicht wurde. Demnach liest jede(r) fünfte 15-Jährige gerade mal auf Grundschulniveau, im internationalen Vergleich rangiert Deutschland weiterhin im Mittelfeld, und unverändert gilt, dass Kinder aus ärmeren Verhältnissen schlechtere Bildungschancen haben.
Das muss sich dringend ändern. Alle Kinder sollen lesen lernen können, es ist entscheidend für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft. Wer liest, hat mehr vom Leben, kann Zukunft mitgestalten und das, was die weltberühmte Kinderbuch-Heldin Pippi Langstrumpf so unnachahmlich eingefordert hat, umsetzen: „Mach dir die Welt, wie sie dir gefällt!“
Entsprechend fordert nun auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier endlich entschiedenes Handeln von Seiten der Politik. Die Begründung liest sich so: Lesen und Vorlesen dient dem Spracherwerb, beides ist Voraussetzung für Sprachkompetenz und damit selbst eine Schlüsselkompetenz.
Wer liest, hat den Schlüssel zu Bildung und Ausbildung, zu höheren Schulabschlüssen, einem Studium und langfristig zu besser bezahlten Berufen. Darum will der Bund in Zukunft vor allem frühkindliche Leseförderung unterstützen. Das Vorlesen kommt ins Spiel, Leseförderung ist das Zauberwort. Ich mag es nicht besonders, in meinen Ohren klingt es zu sehr nach Muss und zu wenig nach Lust. Gerade die aber ist in Deutschland Mangelware. Laut PISA-Studie liest nur die Hälfte der Schülerinnen und Schüler. Es fehlt also nicht nur die Fertigkeit des Lesens, es fehlt die Leidenschaft. Das eine bedingt das andere, aber fest steht auch: Lesekompetenz und Leselust lassen sich am besten über gute Geschichten wecken – und zwar möglichst früh. Schließlich zeigen sie, warum es sich lohnt, lesen zu lernen.

Das gute Buch – gibt’s das überhaupt?
Nun kann man trefflich darüber streiten, was ein gutes Buch ist. Spannend muss es sein, überraschend und unterhaltsam. Gut ist ein Buch, das gut geschrieben ist, das glaubwürdig ist und das berührt. Gute Kinderbücher nehmen ihre Leser ernst. Sie wollen nicht belehren, sondern erzählen. Im besten Fall kann man auf dem, was man liest, herumkauen. Oder Bücher einfach verschlingen.
Auch die neuen „ELTERN-Vorlesebücher“ gehören dazu, „Das große Peppa-Vorlesebuch“ zum Beispiel. Schwein gehabt – schließlich ist Peppa genau das, ein Ferkel, und ein großer Glücksbringer dazu. Oder „Das kleine WIR“ von Daniela Kunkel, das zeigt, wie es ist, wenn man gegeneinander statt miteinander ist – nämlich gar nicht schön. Deshalb: Her mit dem Wir-Gefühl. Oder „Pip und Posy“ von Axel Scheffler, der mit seinen Zeichnungen zum „Grüffelo“ weltberühmt wurde und hier kleine, feine Freundschaftsgeschichten erzählt.
All die „Vorlese-Bücher“ erzählen von Kinderalltag, kleinen Abenteuern, großen Gefühlen und dem, was zählt. Sie machen Spaß, besonders wenn der Autor Andreas Steinhöfel der Übersetzer ist. In „Roberta & Henry“ von Jory John und Lane Smith, ist Giraffe Roberta unglücklich: Ihr Hals ist einfach viel zu lang. „Zu biegsam. Zu dünn. Einfach bekloppt. Zu scheckig. Zu streckig“ sprachspielt und wortwitzelt Andreas Steinhöfel und macht damit nicht nur Kinder froh.
Schließlich zeichnet das gute Bücher aus: Sie bieten Platz für eigene Gedanken und Gefühle, die Leser und die Vorleser dürfen mitspielen, und einmal mehr bestätigt sich, was Astrid Lindgren schon vor vielen Jahren gewusst hat. Die antwortete auf die Frage, was ein gutes Buch sei: „Ein gutes Buch – ist ein gutes Buch.“
Was soll unser Kind also lesen?
Einer, der ständig mit dieser Frage konfrontiert wird, ist Olaf Jürging vom Kinderbuchladen „LeseLotte“ in München. Seit 14 Jahren verkauft er zusammen mit seiner Frau Kinderbücher und kann, zumindest aus seiner Erfahrung, nicht bestätigen, dass Lesen und Leselust zurückgehen. „Die Qualität und Attraktivität der Bücher haben sich extrem verbessert“, attestiert der Buchhändler aus Überzeugung, der ursprünglich einen anderen Beruf erlernt hat. Und er stellt fest, dass auch die Erwachsenen klüger geworden sind. Zwar kaufen meist noch sie die Bücher, aber immer öfter kann Olaf Jürging direkt mit den Kindern sprechen. Und das macht dann richtig Spaß! „Man erhält eine direkte Rückmeldung auf das, was man da erzählt: ob die Kinder leuchtende Augen bekommen oder abschweifen.“
Schließlich sind Kinder neugierig und offen. Sie sind pur und radikal in ihren Ansichten und ihren Vorlieben. Darum kann man als Erwachsener gar nicht viel falsch machen: Zur Not legt ein Kind ein Buch wieder weg. Na und? Es gibt ja kein Verfallsdatum, dann wird es eben später noch mal angeschaut und (vor-)gelesen. Olaf Jürging bestätigt: Ein Patentrezept, was das richtige Buch ist, gibt es nicht, aber Erfahrungswerte. „Es ist ein Spiel, bei dem man versucht herauszufinden, was dem Kind gefällt. Und versucht, eigene Wünsche und den eigenen Geschmack dann eben auch mal zurückzustellen.“
Der Zeichner Jörg Mühle, der mit seinen Pappbilderbüchern „Nur noch kurz die Ohren kraulen?“, „Tupfst du noch die Tränen ab?“ und „Badetag für Hasenkind“ große Kunst für kleine Kinder hingelegt hat und damit überaus erfolgreich ist, geht sogar noch einen Schritt weiter: „Ich halte es für eine Erziehungsaufgabe, Angebote zu machen, den Blick zu öffnen und den Horizont zu erweitern. Ich gebe meiner Tochter Bücher, die ich gut finde, ich zeige meiner Tochter Bücher, die ich doof finde, und letztlich muss sie entscheiden, was sie davon prägt.“
Dann werden aus Leseanfängern mündige Leserinnen und Leser. Die lassen sich kein X für ein U vormachen – das ist wichtig, nicht nur für die Welt der Bücher.
Und wenn eure Kinder sogenannte Lesemuffel sind? Dann ist das auch kein Weltuntergang! Dann hilft nur eins: immer wieder Bücher anbieten und zum Lesen und Vorlesen einladen, aber bloß keinen Druck ausüben. Der hat noch niemanden bekehrt. Liebe und Leidenschaft lassen sich nun mal nicht verordnen – sondern nur persönlich erfahren. Aber dann halten sie. Oft ein Leben lang.
Tolle Vorlesetipps
- Macht es euch gemütlich: auf dem Sofa, unter der Bettdecke, auf dem Teppich vor dem Kamin, auf Kissenbergen, an die Heizung gekuschelt ...
- Sucht zum Vorlesen ein Buch aus, das euch gefällt, denn das merken eure Zuhörer sofort. Dann steckt ihr mit eurer Begeisterung an.
- Lesen und Vorlesen braucht Zeit. Nehmt sie euch! Das tut allen gut.
- Lautstärke, Rhythmus, Tempo – damit könnt ihr beim Vorlesen spielen.
- Wenn ihr euch beim Vorlesen selbst zuhört und der Geschichte folgt, lest ihr besonders einfühlsam – fast so, als würdet ihr Theater spielen.
- Keine Angst vor Versprechern!
- Am schönsten ist es, zusammen zu lachen, zu weinen und sich aneinanderzukuscheln, wenn es spannend wird. Beim Vorlesen geht’s schließlich auch um die gute Zeit, die ihr mit euren Kindern verbringt.
Wie finden wir die richtigen Bücher?
- Überlasst die Wahl der Bücher euren Kindern, denn die greifen nach dem, was sie interessiert.
- Keine Angst vor Trash! Wir Erwachsenen wollen beim Lesen auch nicht nur lernen, sondern unterhalten werden.
- Mutet euren Kindern auch Ungewöhnliches zu. Was sie nicht anspricht, legen sie weg und versuchen es später noch mal.
- Wenn euer Kind nicht lesen will – keep cool. Vielleicht beißt es eines Tages doch an!