Für Ein-Kind-Familien gibt es viele Ursachen
Mutter, Vater, Kind. Und Schluss. Sieht so die Familie der Zukunft aus? Aktuelle Statistiken legen das nahe: Schon lebt in etwa der Hälfte der deutschen Haushalte nur ein Kind. Gründe dafür gibt es viele, und sie lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen: höhere Gewalt - und bewusste Entscheidung.
Unter die erste Gruppe fallen zum Beispiel all die Elternpaare, die durchaus an ein Geschwisterchen dachten, denen aber das Leben einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Häufigster unfreiwilliger Grund sind Trennung und Scheidung: 36 Prozent aller Einzelkinder haben alleinerziehende Mütter oder Väter. Auch Krankheiten und Todesfälle machen Planungen zunichte.
Immer mehr Paare trifft auch die so genannte sekundäre Unfruchtbarkeit: Es kommt kein zweites Kind, obwohl es schon einmal geklappt hat. Dann gibt es noch die Paare, die schon das erste Kind nur mithilfe künstlicher Befruchtung bekommen konnten - und sich die oft langwierige, nervenzehrende und zudem auch sehr teure Prozedur kein zweites Mal zumuten wollen.
Die Zahl der Wunsch-Einzelkinder steigt
Im Jahr 2007 bekam die Durchschnitts-Deutsche 1,37 Kinder. Und darunter viele auf eigenen Wunsch genau eines, bei dem es bleiben soll. Dafür gibt es gute Argumente: Mit einem Kind gelingt es leichter, Familie und Beruf unter einen Hut zu kriegen. Und dass beide Elternteile früh wieder berufstätig sind und Erziehung wie Haushalt gleichberechtigt aufteilen, ist Einzelkind-Eltern laut Umfragen wichtiger als Eltern mehrerer Kinder. So gehen 68 Prozent der Mütter von Einzelkindern schon vor dem dritten Geburtstag des Kindes wieder zurück in den Job - von den Mehrfachmüttern nur 43 Prozent.
Eltern mit einem Kind haben mehr Zeit als Paar, gehen häufiger aus oder treffen Freunde. Trotzdem bleibt ihnen mehr Exklusivzeit für ihr Kind als Eltern, die sich zwischen Geschwistern manchmal fast zerreißen müssen.
Einige Mütter geben auf die Frage nach dem Grund für die Drei-Personen-Familie auch unverhohlen zu, dass sie sich Schwangerschaft, Geburt und Babyzeit rosiger vorgestellt hatten und dass sie das, was sie in der Wirklichkeit erwartet hat, nicht noch mal brauchen.
Ein Drittel aller befragten deutschen Einzelkind-Mütter gab außerdem in einer Studie an, dass sie selbst gern weniger oder keine Geschwister gehabt hätten, da es ihnen aufgrund der Brüder und Schwestern an Aufmerksamkeit und Liebe der Eltern gemangelt habe.
Schließlich gibt es auch Eltern, die ohne tiefer liegende Gründe mit ihrem Kind einfach glücklich sind und keinen Wunsch nach einem zweiten verspüren.
Formen Geschwister einen besseren Charakter?
Doch egal, ob bewusst geplant oder als unabänderlich akzeptiert: Auch wenn die Ein-Kind-Familie heute nichts Ungewöhnliches ist - von kritischen Blicken und vielen Vorurteilen ihrem Lebensmodell gegenüber berichten fast alle, die nicht das gesellschaftliche Soll von mindestens zwei Sprösslingen erfüllen. "Typisch Einzelkind!", kriegen sie zu hören, wenn der Zweijährige seine Sandkuchenformen nicht verleihen will, die Vierjährige sich ins Zentrum der Aufmerksamkeit quengelt und der Erstklässler, anstatt sich freudig mit den anderen Jungs zu raufen, nach seiner Mami ruft.
"Typisch Einzelkind" - in diesem lakonischen Seufzer steckt alles drin, was unsere Gesellschaft so an Vorurteilen gegenüber Geschwisterlosen zu bieten hat: Unsozial seien sie und eigensinnig, launisch und altklug, verwöhnt und wehleidig. Und erst die Eltern! Gluckenhafte Übermütter, leistungsorientierte Väter, beide außerdem egoistisch.
Auch Geschwister leben selten wie in Bullerbü
Die gesellschaftliche Ablehnung eines Familienmodells ohne Brüder und Schwestern fußt weniger auf belegbaren Fakten über die Nachteile des Einzelkinddaseins als auf einem Bauchgefühl von "allein kann doch nicht gut sein", wie die Psychologin Brigitte Blüchlinger in ihrem Buch "Lob des Einzelkindes" (Krüger, 14,90 Euro) darstellt. Unser Bild von Kindheit ist von einem romantischen Bullerbü-Ideal geprägt: Kleine und größere Geschwister streifen gemeinsam in Horden durch die Natur und reifen daran, als Kinder unter Kindern zu sein.
Nur, ganz ehrlich: So lebt doch heute kaum noch ein Kind. Auch Eltern mit mehreren Kindern buchen Babyschwimmkurse und Krabbelgruppen, musikalische Früherziehung und Kinderturnen. Sie werden von Erwachsenen geplant und geleitet, und die Spielkameraden sind nur selten die eigenen Geschwister, sondern Gleichaltrige, deren Eltern denselben Kurs für sinnvoll und kindgerecht befunden haben.
Früher galt: Einzelkind? Da ist doch was schief gelaufen!
Vorurteile über Einzelkinder haben vor allem einen Grund: Sie entstanden in einer Zeit, in der es nur in solchen Familien bei einem Kind blieb, die irgendein schwerer Schicksalsschlag getroffen hatte. Die Einzelkinder, denen man üblicherweise begegnete, waren entweder Halbwaisen, Waisen, hatten schwer kranke Eltern oder waren unehelich geboren. Alles in allem also erschwerte Bedingungen zum Großwerden.
Pädagogen und Psychologen stärkten solche Klischees: Sowohl unter Schwerverbrechern als auch unter Homosexuellen habe man überdurchschnittlich viele Einzelkinder gefunden, bekundeten sie noch in den 50er-Jahren. Womit bewiesen schien: Geschwisterlosigkeit wirkt sich in jedem Fall negativ auf die Persönlichkeitsentwicklung aus.
Hat sich so ein Raster erst mal in den Köpfen festgesetzt, scheint es sich zu verselbstständigen: Jeder hat irgendeinen anstrengenden Menschen im Bekanntenkreis, der Einzelkind war - ein "ganz typisches" natürlich - und die Theorie bestätigt. Dass sich auch Millionen Älteste, Sandwich-Kinder und Nesthäkchen mit den angeblich so typischen Einzelkind-Eigenschaften finden, fällt dabei unter den Tisch.
Das sagt die aktuelle Forschung zu Einzelkindern
Dabei zeichnet die neuere Geschwisterforschung ein ausgesprochen positives Bild von Einzelkindern. Laut dem Aachener Psychotherapeuten Thomas von Kürthy, der die erste große deutsche Einzelkindstudie durchführte, wachsen Kinder ohne Geschwister im Schnitt sogar zu sozialeren, optimistischeren, leistungsbewussteren und erfolgreicheren Menschen heran als Geschwisterkinder.
Den Hauptgrund dafür sieht von Kürthy in der oft besonders guten Beziehung zwischen Einzelkindern und ihren Eltern: Haben insbesondere mittlere Geschwister häufig das Gefühl, in Sachen Nähe und Aufmerksamkeit zu kurz zu kommen, berichten nahezu alle Einzelkinder davon, dass ein großes Glücksgefühl ihre Kindheit geprägt hat: Die ungeteilte Liebe der Eltern und ihr stetes Interesse an allem, was mit ihnen zu tun hatte.
Trotzdem wäre es laut Kürthy verkehrt, die alten Vorurteile gegen Einzelkinder durch das neue Credo "Einzelkinder sind die glücklicheren Kinder" zu ersetzen. Seiner und der Ansicht vieler anderer Experten nach ist es vielmehr so, dass der Einfluss der Geschwisterzahl auf die Persönlichkeitsentwicklung unserer Kinder viel geringer ist als bisher angenommen.
Was Kinder wirklich prägt: die gute Beziehung zu ihren Eltern
Viele Studien haben gezeigt: Damit Kinder zu selbstbewussten, sozial kompetenten Persönlichkeiten heranwachsen, brauchen sie Momente ungeteilter Aufmerksamkeit und Phasen des Nebenher-Laufens, weil kein Kind den Stress gut wegsteckt, immer im Zentrum aller Aufmerksamkeit zu stehen. Sie brauchen Grenzen, die ihnen zeigen, wo ihre Welt zu Ende ist, und Freiheiten, die ihnen den Mut und den Raum zum Wachsen und Ausprobieren geben.
Und sie brauchen das tiefe Vertrauen darauf, dass ihre Bedürfnisse ernst genommen, gehört und respektiert werden, ob mit fünf Monaten oder mit 15 Jahren. Für all diese Dinge ist es nur in sehr geringem Maße ausschlaggebend, ob noch Geschwister im Haus sind oder nicht. Es geht um die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, nicht um die Quantität, um die Stunden exklusiver Aufmerksamkeit.
Und: Kinder brauchen andere Kinder. Dafür zu sorgen, dass ihr Kind auch in den ersten Lebensjahren nicht in einer reinen Erwachsenenwelt aufwächst, ist ein Teil des Jobs, Mutter oder Vater eines Einzelkinds zu sein.
Der gesellschaftliche Trend zur Vereinzelung
All das zeigt: Die Ein-Kind-Familie als immer weiter verbreitetes Lebensmodell ist kein Grund zum Fürchten. Sondern ein Abbild unserer Gesellschaft, wo Beziehungen zu anderen Menschen nicht ei fach wie im Geschwisterkreis da sind, sondern Arbeit erfordern: Kontaktaufnahme, den Mut, auf Fremde zuzugehen. In der neuen Stadt, im neuen Job.
Einzelkinder kennen das von klein auf. Sie sind in gewisser Weise schon ihr Leben lang im Trainingslager für einen gesellschaftlichen Trend, den Sozialwissenschaftler als "Vereinzelung" beschreiben. Das klingt nur traurig, wenn man "einzeln" mit "allein" gleichsetzt. Was ja schon bei den Einzelkindern nicht stimmte.
Wie entlastend, zu wissen: In der Entscheidung für oder gegen ein zweites Kind sind Eltern ganz und gar frei. Ihr Erstgeborenes kann die Entthronung durch Bruder oder Schwester genauso wegstecken wie die Tatsache, das einzige Kind zu bleiben - wenn es sich geliebt und angenommen fühlt. Weshalb es eigentlich nur einen guten Grund gibt, sich für ein zweites Kind zu entscheiden: Weil es ein Wunschkind ist.
Einzelkind-Eltern treffen sich - im Eltern.de-Forum!
Sie sind Eltern eines Einzelkindes? Dann können Sie in unserem "Einzelkinder-Forum" diskutieren, was es für ein Kind bedeutet, ohne Geschwister aufzuwachsen.