Als die Corona-Pandemie begann, machte die Ausnahmesituation auch vor Familien nicht halt: Kitas und Schulen wurden geschlossen, Homeschooling war eine gefühlte Ewigkeit die Regel, die notwendigen Impfstoffe wurden erst nach und nach zugelassen – und die Sorge vor der Ansteckung vulnerabler Gruppen trennte viele Großeltern lange Zeit von ihren Enkelkindern.
Doch schon vor der Pandemie war der Grad der Erschöpfung bei Eltern – gerade in westlichen Ländern – hoch. Eine groß angelegte Studie aus dem Jahr 2021 wollte den möglichen Grund hierfür erforschen.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Individualismus und Erschöpfung bei Eltern?
In der Studie, die 17.409 Eltern aus 42 Ländern untersucht hat, wollten die Forschenden dem Grund nachgehen, warum Eltern aus westlichen Ländern tendenziell erschöpfter sind als Eltern aus nicht-westlichen Ländern. Das klare Ergebnis überraschte die Wissenschaftlerin und Psychologin Isabelle Roskam von der Universität Louvain in Beligien, die ein Interview mit "Science News" führte.
"Ich hatte die Vermutung, dass der Individualismus zum elterlichen Burnout beitragen würde", so Roskam im Gespräch. Sie selbst ist Mutter von fünf Kindern zwischen Vorschul- und Universitätsalter. Tatsächlich ergab kein anderer Faktor in der Studie – wie zum Beispiel eine hohe Arbeitsbelastung der Eltern – eine so klare Verbindung mit dem elterlichen Burnout wie der Individualismus, also die Bedeutung von Unabhängigkeit in einem Land bzw. der Kultur, aus der die Eltern stammen.
Die Studie nutzte Daten eines Analyseunternehmens, um den Individualismuswert einzelner Länder zu berechnen. Nahezu jedes zehnte Elternteil (acht Prozent) war beispielsweise in den Vereinigten Staaten, einem Land mit einem Individualismuswert von 91, ausgebrannt. In Ländern mit einem Wert gen 20 wie beispielsweise China oder Pakistan litten hingegen nur ungefähr zwei Prozent der befragten Eltern an Burnout. Auch Deutschland bewegt sich hierbei bei Werten zwischen einem und zwei Prozent.
Studie projiziere "westliche Vorstellungen auf den Rest der Welt"
Eine mögliche Interpretation der Ergebnisse: In Ländern, in denen besonderer Wert auf die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit gelegt wird, bleibt eher weniger Raum für das Gefühl der Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Anders bei einer kollektivistischen Kultur, in der die Gruppe tendenziell Vorrang gegenüber den Bedürfnissen des Individuums hat.
Menschen aus diesen Kulturen können sich wohl öfter auf die Hilfe der Großfamilie, Freund:innen und Bekannten bei der Kindererziehung und den damit einhergehenden Aufgaben verlassen. Die Ergebnisse der Studie – und die Untersuchung selbst – werden allerdings auch kritisiert.
Begriffe aus den Fragebögen der Studie wie "erschöpft" oder "Vergnügen" in Bezug auf die Elternschaft ergeben für die Befragten in nicht-westlichen Ländern unter Umständen gar keinen Sinn, befürchtet der Soziologe Frank Furedi von der University of Kent im Gespräch mit "Science News". "Diese Studie projiziert eine [westliche] Vorstellung auf den Rest der Welt", so der Wissenschaftler. Schlimmstenfalls würden die Antworten der Eltern in diesem Fall bedeutungslos, weswegen sich der Soziologe neutrale Fragen gewünscht hätte, beispielsweise nach der optimalen Zeit, die Eltern mit ihren Kindern verbringen.
Verwendete Quellen: sciencenews.org, link.springer.com