Um es gleich vorweg zu sagen: Nein, die Familie wohnt nicht bei uns im Gästezimmer, und nein, wir essen nicht alle Mahlzeiten zusammen (ich würde durchdrehen!), und ja, die Gemeinde zahlt Miete für die Unterbringung, denn wir hatten gerade zuvor eine abgeschlossene Wohnung im Souterrain zum Vermieten ausgebaut.
Eine Familie aus dem Krieg im Frieden aufnehmen
Dann kam der Krieg, und ich hamsterte, kaufte Solar-Powerbanks und Gaskocher, um meine Familie im Falle eines Falles zu versorgen, wie eine Glucke mit Stahlhelm. Hauptsache, uns ging es gut! Irgendwann schämte ich mich für mein Verhalten: Wir haben einfach nur Glück, dass wir 2000 Kilometer entfernt wohnen und unsere Kinder nicht in Todesangst in Kellern sitzen müssen, dachte ich. Verdammtes, sattes Glück.
Und irgendwann sagte Immo dann: "Wir müssen auch eine Familie aufnehmen. Wir haben so viel Platz. Wer, wenn nicht wir?" Natürlich hatte mein Mann recht. Zumal er aus Bundeswehrzeiten auch noch Russisch spricht. Ich zögerte trotzdem.
Meine Eltern und meine Schwester hatten schon Familien aus Syrien und Afghanistan begleitet oder aufgenommen, teils über Jahre. Ich wusste also ganz genau, was das bedeutet, wie viel Kraft man dafür braucht. Dennoch wusste ich auch: Es wäre richtig.
Die Entscheidung war getroffen
Ich sagte: "Okay, aber nicht, dass du dann ins Büro verschwindest, und ich hänge hier mit allem, was zu tun ist." Und Immo: "Na ja, die Leute brauchen erst mal einfach ’ne Bleibe und dass man sie in Ruhe lässt." Und ich: "Nein, die brauchen ALLES, und wir werden das stemmen müssen. Das muss uns klar sein."
Dann sprachen wir mit den Kindern: "Wir nehmen diese Familie auf, aber das heißt nicht, dass ihr euch ständig kümmern müsst. Die Verantwortung liegt bei uns" Und dann ließ ich uns auf die Gastgeberliste setzen.
Drei Tage später rief das Amt an: "Wir haben hier eine Mutter mit zwei Kindern, 4 und 13. Können wir sie morgen vorbeibringen?"
Viel Hilfsbereitschaft von Freunden und Nachbarn
Puh! So schnell! Aufgeregt erzählten wir die Neuigkeiten herum – und wurden überrollt von einer Welle der Hilfsbereitschaft: Der Entrümpler um die Ecke schenkte uns eine gebrauchte Miele-Waschmaschine, Nachbarn und Freunde lieferten minütlich fehlende Haushaltsgegenstände und Kleidung, sodass die Wohnung nach wenigen Stunden perfekt ausgestattet war. Das Verrückte war: Alle gaben ab – und hatten trotzdem noch genug.
An dem Morgen, als die Familie ankommen sollte, fuhr Immo fürs Wochenende weg. Das war lange geplant und einfach Pech. Ich hätte ihn jetzt wirklich gebraucht! Denn schon eine halbe Stunde später hielt das Auto, mit dem Oksana (Name geändert) und ihre Kinder gebracht wurden. Sie stieg aus, total erschöpft und verängstigt. Dann sah sie mich und das Haus, ließ sie ihre drei winzigen Rucksäcke fallen, mit denen sie aus Kiew bis nach Berlin getrampt (!) waren, und wir fielen uns in die Arme und weinten beide minutenlang, ohne uns jemals vorher gesehen zu haben.
Was ich in jenen Minuten dachte? Wir alle müssen viel mehr zusammenhalten. Wir Frauen, wir Mütter, wir Familien, wir Menschen. Weil wir verbunden sind. Nur wenn wir das vergessen, ist alles verloren – und alles gerettet, wenn wir uns die Hand reichen und füreinander sorgen.
Unbeschreibliche Erleichterung
Ja, das dachte ich, und das ist es, was ich auch in den Wochen danach fühlte: Der Ohnmacht war das Gefühl gewichen, dem Völkermord etwas entgegensetzen zu können. Die Sicherheit, Wärme und Menschlichkeit, die wir zu geben versuchten, ich spürte sie auch in meinem eigenen Herzen, das kann ich heute sagen.
Obwohl es dann recht schnell ruckelig wurde: Der Kleine hatte sich auf der Flucht eine schwere Diarrhöe einfangen. Die ersten Nächte verbrachte ich mit Elektrolytlösung und Salzstangen an seinem Bett – in Panik, dass er nun hier, in Sicherheit, in meinem Haus, sterben würde, so schmal und elend lag er da. Schließlich fuhren wir ins Krankenhaus, der ältere Sohn musste bei meinen Kindern bleiben, ohne sie zu kennen.
Doch nach einigen Tagen war der Kleine wieder fit. Sehr fit! Seitdem nimmt er unseren Garten auseinander und stellt unsere Nerven auf die Probe.
Der Alltag pendelt sich ein
Dennoch lieben wir ihn: kleine Füße, kleines Stimmchen, hach, das ist alles so lang her! Weil er seinen Vater, der in Kiew festsitzt, vermisst, ist er dazu übergangen, Immo "Onkel Immo" zu nennen und ihm nicht von der Seite zu weichen. Smilla sagt, sie habe nun endlich "den kleinen Bruder, den ich nie hatte", und er klopft ständig an unsere Terassentür, um mit ihr zu spielen. Unsere Jungs "erbarmen" sich hin und wieder, mit dem Älteren Schach zu spielen. Zu mehr haben sie einfach keine Lust, und das ist auch okay so.
Immo und ich hängen neben unserer vollen Berufstätigkeit sehr viel auf Ämtern und bei Ärzten rum, schreiben Anträge für Oksana und ihre Familie. Das ist stressig, und doch fühlen wir uns einander sehr nah.
Jetzt ist der Kleine im Kindergarten, der Große geht in die Schule und ist im Sportverein angemeldet, und Oksana lernt mit einer Nachbarin Deutsch, bis die Integrationskurse anfangen. Ich habe keine Sekunde freie Zeit mehr, aber es ging mir noch nie so gut – auch weil ich Oksana bewundere, die sich so tapfer schlägt.
Eine Dankesbotschaft vom Vater aus Kiew
Neulich gab es ukrainischen Borschtsch und Knoblauchbrote zum Dank, und während wir so dasaßen, trudelte eine Videobotschaft vom Papa aus Kiew ein, der diese in mühevoller Arbeit auf Deutsch (!) aufgenommen hatte:
"Darf ich mich vorstellen, ich bin Viktor, der Papa von zwei tollen Jungs und Ehemann von Oksana. Vielen Dank, dass Sie meine Familie mit so viel Wärme und Fürsorge aufgenommen haben und dass Ihr Land ihnen Asyl gewährt. Ich hoffe, wir können uns eines Tages kennenlernen."
Das hoffe ich auch. Von ganzem Herzen.
Nachtrag, vier Wochen später
Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns eine schlimme Nachricht, die uns sehr bestürzt: Oksanas Mann hat sich aus Verzweiflung darüber, dass er nicht zu seiner Familie ausreisen durfte, das Leben genommen. Oksana möchte trotzdem, dass dieser Text erscheint.
Und Julia schreibt dazu: Spätestens seitdem das geschehen ist, ist mir klar geworden: Wir sind am gleichen Ort, aber nicht in derselben Welt. In meiner ist Frieden. In Oksanas ist Krieg.
Julia Schmidt-Jortzig
Julia Schmidt-Jortzig, 48, hat zwei Söhne (Juri, 16, Matti, 15), eine Tochter (Smilla, 10), einen Mann (Immo), einen Hund (Flocke), einen Job und ein Haus in der schleswig-holsteinischen Provinz. Was dabei im Alltag herauskommt, erzählt sie uns hier alle zwei Monate im Wechsel mit Joachim Brandl, Vater von zwei kleinen Töchtern aus Wien.