Neulich, im Videocall. "Wir Nigerianer sind die Königinnen und Könige der Einmischung", sagt Cynthia und lässt temperamentvoll ihre vielen geflochtenen Zöpfchen wippen. "Sogar auf der Straße rufen dir Leute hinterher, wenn sie finden, du machst was falsch mit deinen Kindern, hältst sie nicht richtig, was auch immer." "Ja, kenn ich auch aus Schweden!", antwortet Elsa und lacht zustimmend. "Ich nenne das ‚Momsplaining‘."
Im wirklichen Leben haben sich die beiden nie getroffen, aber bei der virtuellen Plauderei sind sie sich ganz schnell ganz nah: die verheiratete Dreifachmutter aus der westafrikanischen Metropole Lagos, die lesbische Szene-Mom aus der skandinavischen Unistadt Uppsala und vier weitere Elternteile aus den USA, Brasilien, England und von den Philippinen. Typisches Kennich-auch-Gefühl: Muttersein, Vatersein ist alles auf einmal, macht sternhagelglücklich und dann wieder betrübt und unsicher. Auch deshalb, weil einem so viele Menschen reinreden.
Die sechs Menschen im Video (auf YouTube unter "The Parenting Index – Global Film") gehören zu einer Gruppe von über 8000 Baby-Eltern aus 16 Ländern, die vom Marktforschungsinstitut Kantar im Auftrag des Lebensmittelkonzerns Nestlé befragt wurden: Wie geht es euch mit euren Kindern, was macht euch glücklich, was stresst euch?
Die Antworten des globalen "Parenting Index" verblüffen – zum einen, weil sie trotz unterschiedlicher Alltagserfahrungen oft so ähnlich sind, zum anderen, weil sie zeigen, wie Gesellschaftsformen und Gewohnheiten unsere Wahrnehmung prägen. Und weil der Blick über den Tellerrand inspirieren kann, das eigene Leben in anderem Licht zu sehen – wie schon unser Auftaktartikel in ELTERN 8/21 zeigte. Wir fragen nach: Wo stehen wir in Deutschland, wo stehen andere, was können wir voneinander lernen?
Wenig Druck = großes Stück vom Glück
Das Gefühl, unter Druck zu sein, kennen fast alle Eltern. Weltweit. Sowohl durch die Familie, die Gesellschaft, die globale Internet-Gemeinschaft, als auch in Form nagender Fragen an uns selbst. Mache ich auch alles richtig, werde ich meinem Baby gerecht, verstehe ich, was es braucht? Die Sozialforscher des Kantar-Instituts, die unsere weltweite Befindlichkeit in Zahlen und Statistiken fassen, sagen: Ob wir mehr oder weniger Druck empfinden, eher unterstützt werden oder uns permanent rechtfertigen müssen, macht über 20 Prozent davon aus, wie wir uns als junge Eltern fühlen. Also ein großes Stück vom Glück, vor allem bei den Müttern, denn traditionelle Rollenbilder sitzen tief und Schuldgefühle sind leicht geweckt. Erst danach kommen Fragen nach Vereinbarkeit, finanzieller Stabilität oder wie pflegeleicht das eigene Baby empfunden wird.
Dabei sind Eltern, gerade beim ersten Kind, durchaus auf der Suche nach gutem Rat, bei Kinderärzten und anderen Medizinern (66 Prozent), bei älteren Familienmitgliedern wie der eigenen Mutter (62 Prozent), Partner oder Partnerin (44 Prozent). Aber schnell wird es auch des Guten zu viel, vor allem, wenn der Rat ungebeten kommt. 60 Prozent bejahen die Aussage: "Jeder um uns herum hat eine Meinung und äußert sie, ob wir sie hören wollen oder nicht." Da hilft manchmal nur, freundlich zu nicken und den Redeschwall zum einen Ohr hinein-, aus dem anderen Ohr hinausgehen zu lassen.
Oft ist das leichter gesagt als getan. Denn Elternsein ist immer ein Eiertanz zwischen Selbstermächtigung und Suche nach guten Vorbildern. Und jede dritte Mutter, jeder dritte Vater weltweit gibt zu, dass das neue Leben doch noch mal ganz anders ist, anstrengender, umwälzender, als sie es sich vorgestellt haben.
Am schwersten scheint das Elternsein in China zu sein. Hier fühlen sich 71 Prozent aller Eltern von ihrer Umgebung, real oder virtuell, massiv in die Mangel genommen. Ein Grund dafür liegt in der politischen Tradition. Von den 60er-Jahren an durften chinesische Paare nur ein Baby in die Welt setzen, um das Bevölkerungswachstum zu drosseln, und die Behörden zogen die Vorgaben mit aller Härte durch. Daraus entstand über zwei, drei Generationen die Vorstellung: Wenn schon Einzelkind, dann soll es bitte perfekt sein, pflegeleicht, begabt, hübsch, liebenswürdig – und ihr seid dafür verantwortlich!
Wenn der Boom zum Blues führt
Das wirkt nach, selbst wenn chinesische Paare heute freier entscheiden dürfen, ob sie ein zweites oder neuerdings auch ein drittes Kind bekommen möchten. Dazu kommen hohe Erwartungen seitens der eigenen Familie, ein starkes Bildungs- und Arbeitsethos, und der Wunsch, die eigenen Kinder mögen es wirtschaftlich besser haben als man selbst. Bei so viel Anspruch, von außen wie von innen, verwundert es nicht, dass chinesische Mütter am stärksten unter Babyblues leiden. 47 Prozent fallen nach der Geburt in ein – wenn auch vorübergehendes – Stimmungsloch, mehr als dreimal so viele wie etwa in Polen, Nigeria und Israel.
Manche Strukturen sind von Land zu Land ähnlich, werden aber unterschiedlich erlebt. Etwa, wenn man Brasilien und Mexiko betrachtet. Hier wie dort spielt die erweiterte Familie eine wichtige Rolle. Besonders die Großmütter sind eine wichtige Säule für die Kinderbetreuung, aber gleichzeitig auch eine Autorität in Sachen Erziehung, mit der man sich besser nicht anlegt.
"Jeder will mitreden, das stresst mich!" – bestätigen 71 Prozent aller brasilianischen Mamas. Mexikanische Mütter fühlen sich dagegen mehrheitlich tiefenentspannt: Nur 39 Prozent klagen über Druck von außen, zwölf Punkte weniger als der globale Durchschnitt. Die Erklärung der Studienleiter: In Mexiko ist es die Tradition, sich gemeinsam und auf Augenhöhe für Kinder verantwortlich zu fühlen, im Dorf, in der Nachbarschaft. Die geteilte Verantwortung entlastet alle. Und weil fast drei Viertel der Mütter keiner bezahlten Erwerbsarbeit nachgehen, sind sie zwar weniger unabhängig, erleben aber auch weniger Vereinbarkeitsstress.
Bei uns: das Beste aus beiden Welten?
Den haben wir mit Sicherheit bei uns in Deutschland. Aber: Deutsche Eltern stehen in der Befragung gar nicht so schlecht da. Im Gegenteil, sie liegen an zweiter Stelle der entspannten Nationen, noch vor Mexiko und Israel. Es scheint, dass die Veränderungen der letzten zehn, 15 Jahre mit mehr und besseren Betreuungsmöglichkeiten, gerechterer Rollenverteilung und staatlicher Unterstützung den alten Richtungsstreit zwischen angeblichen Rabenmüttern und angeblichen Helikopter-Glucken langsam, aber sicher zum Ende bringen. "Deutsche Eltern haben die Erwartung, dass sie Kinderbetreuung und Arbeitsleben gut vereinen können und so das Beste aus beiden Welten haben können", schreiben die Studienautoren.
Klar gibt es immer noch Luft nach oben, und da landet man unweigerlich bei Schweden. Der skandinavische Musterknabe steht im globalen Vergleich bei vielen Faktoren an erster Stelle, auch bei der Abwesenheit von Druck. Alles easy also? Nicht ganz: Schwedische Eltern sind nämlich die einzigen weltweit, die mehr am inneren Kritiker leiden als an Gemecker von außen. Wenn die Umstände so traumhaft sind, von langer, staatlich bezahlter Elternzeit bis zu geschlechtergerechter Aufgabenteilung, gibt es eben niemanden, den man verantwortlich machen kann, wenn mal nicht alles rund läuft. Elsa, die schwedische Mutter aus dem Video, hat einen guten Tipp: "Erst mal bei sich selbst anfangen. Aufhören mit dem Momsplaining. Was wir alle brauchen, mehr als alles andere, ist Unterstützung und Gemeinschaft."
Zu zweit allein
"Loneliness Paradox" bedeutet: Man hat sich ein Baby gewünscht, und fühlt sich in der ersten Zeit mit Kind dennoch einsam. Ein Phänomen, das besonders unter britischen Müttern verbreitet ist – zwei von fünf leiden unter zu wenig Austausch und Isolation. In Großbritannien ist Einsamkeit ein großes Gesellschaftsthema, es gibt sogar eine Regierungskommission, die sich damit beschäftigt.
Und mit Zweien?
Beim zweiten Kind wird alles besser? Jein, sagen die Sozialforscher: Zwar wächst mit der Routine auch die Sicherheit im Umgang mit einem Baby, aber der äußere und innere Druck, sich zu rechtfertigen, wird laut Befragungen nicht geringer.