Als Kind waren die Vorlesestunden meine liebste Zeit. Jeden Sonntag um sechs wachte ich auf, schlich leise in das Schlafzimmer meiner Eltern und drängelte mich zwischen die beiden ins Bett. Immer mit dabei: Mein Lieblingsbuch, Lotta aus der Krachmacherstraße, aus dem mein Vater mir erst widerwillig und dann mit zunehmender Begeisterung vor dem Frühstück vorlas.
Ich schmiegte mich dicht an ihn und hörte seinen Herzschlag, während ich mich in eine Welt aus rosa Schweinebären und roten Fahrrädern, mit wenig Streit und viel Freunde und Sonnenschein hineinträumte. Lotta konnte alles: Schaukeln, Fahrrad fahren, einen Weihnachtsbaum besorgen, obwohl in der ganzen Stadt die Tannen ausverkauft waren. Und ich wollte das alles auch. Zum Geburtstag bekam ich, wie Lotta, eine rote Handtasche und ein rotes Kleid mit weißen Punkten, zum bestandenen Seepferdchen von meiner Oma einen Schweinebären genäht. Ich war Lotta.
Als mein Sohn geboren wurde, freute ich mich vor allem aufs Vorlesen. Er war gerade fünf, als ich, ein wenig aufgeregt, das Lieblingsbuch meiner Kindheit aus dem Regal nahm. Es war ein regnerischer Tag. Wir kuschelten uns gemütlich ins Bett, wie früher, als mein Vater mir vorlas, und ich begann zu lesen. Meinem Sohn gefielen die Geschichten und die bunten Bilder sehr. Immer wieder rief er: „Lies weiter, Mama. Bitte.“
Als ich das vorletzte Kapitel aufschlug, hätte ich vor Schreck beinahe das Buch fallen lassen. „Lotta ist ein N***sklave“ stand da. Meine Hände zitterten. Mein Sohn ist schwarz – „N***gersklave“ ist kein Wort, das ich ihm vorlesen möchte. „Das Buch ist zu Ende,“ sagte ich und stellte es ins Regal zurück.
Als mein Sohn abends schlief, nahm ich das Buch noch einmal heraus, schlug es auf und begann zu lesen.
Da gibt es Lotta, die im Spielhäuschen sitzt, das ein Gefängnis sein soll und sich mit viel Dreck beschmiert, damit sie wie ein richtiger N**sklave aussieht. Und es gibt den kleinen Totte, der weint vor lauter Angst, als er Lotta sieht. Auf die Frage, ob die gefährlich seien, antwortet sie: „Manche N**sklaven sind ziemlich gefährlich.“ So viel Rassismus in so wenigen Sätzen! Ich war schockiert. Ich hatte das als Kind gar nicht bemerkt. Da erschien mir das als harmloses Spiel. Doch jetzt sah ich die rassistischen Bilder hinter diesem Spiel: Schwarze Menschen sind in der Geschichte N**r, das Andere, versklavt, eingefärbt, dreckig, furchterregend und gefährlich, keine Menschen.
Ich begann zu weinen. Ich war so sicher, dass Lotta auch für meinen Sohn eine Identifikationsfigur sein könnte. Stark, mutig, tapfer, selbstbewusst. Aber jetzt war sie für mich nur noch eine Rassistin. Meine Kindheits-Heldin hatte hässliche Risse bekommen, die nicht zu kitten sind. Dieser Abschied ist schmerzlich Mein Sohn weiß noch nicht, was das Wort Rassismus bedeutet. Aber dass er anders wahrgenommen wird als Weiße, das weiß er schon. War es feige von mir, das Buch wegzustellen, anstatt mit ihm darüber zu sprechen? Und selbst wenn, was hätte ich denn sagen sollen? Und meine Eltern, sind sie Rassisten, weil sie mir das Buch gezeigt hatten?
Wieso konnte ich nicht im Nachhinein mit meinem Sohn darüber sprechen, weshalb ich das Buch für beendet erklärt hatte? Er hatte vermutlich gemerkt, dass da noch etliche ungelesene Seiten waren und dass das Ende abrupt war. Konnte ich es nicht, weil ich damit etwas über mich und meine Eltern hätte erklären müssen? Nämlich, dass meine Eltern und ich dachten, dass das Kapitel gut war? Dass wir den Rassismus gar nicht wahrgenommen haben?
Ich bin traurig. Meine Kindheitsheldin, das kleine Mädchen mit dem roten Kleid aus der scheinbar heilen Welt, habe ich verloren. Aber ich habe daraus gelernt. In Zukunft werde ich meinem Sohn kein Buch mehr vorlesen, ohne vorher nachzusehen, ob und wie Schwarze Menschen dargestellt werden.
Egal, wie positiv meine eigene Erinnerung an die Geschichten ist. Durch die Geburt meines Sohnes hat sich meine Wahrnehmung nicht nur von Kinderbüchern stark verändert. Ich merke wie verbreitet und vielgestaltig Rassismus ist und dass bereits Kinder damit konfrontiert sind. Das ist erschreckend für mich. Doch es zeigt mir, wie wichtig es ist, Kindheitserinnerungen zu hinterfragen. Dass es nötig ist, los zu lassen, was mal schön schien. Und dass es möglich ist, neue Wege zu gehen und gleichzeitig Positives weiterzugeben. Ich lerne meine Welt realistischer wahrzunehmen. Das brauche ich, um meinen Sohn gut zu begleiten.
Rassismus in Kinderbüchern Lotta, meine Heldin - Lotta, die Rassistin?

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Lotta aus der Krachmacherstraße war die Heldin meiner Kindheit - Mutig, stark, selbstbewusst. Riesig hatte ich mich darauf gefreut, ihre Geschichte an meinen Sohn weiterzugeben. Doch dann war da dieses Wort.