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Weniger ist mehr: Unsere langjährige Autorin Leonie Schulte hat ein ganzes Buch dazu geschrieben. Im Interview verrät sie uns, wie es gelingt, sich von zu hohen Erwartungen und riesigen Wäschebergen zu befreien.
Interview: So misten Eltern besser aus
ELTERN.de: Was Familien wirklich brauchen – so heißt es in der Unterzeile deines Buches. Was brauchen sie denn?
Leonie Schulte: In erster Linie geht es darum, sich diese Frage überhaupt mal bewusst zu stellen: Was benötige ich wirklich? Gemeint sind Dinge wie Kinderspielzeug, aber auch Termine und Erwartungen, die wir an uns und unsere Kinder richten.
Und am Ende bleiben karge Kinderzimmer und weiße Wohnzimmerwände?
Das ist immer das, was wir sofort mit dem Minimalismus und diesem Weniger-ist-mehr-Prinzip in Verbindung bringen. Dabei geht nach meinem Empfinden vor allem darum, herauszufinden, was für uns wirklich bedeutsam ist. Das kann auch das Wohnen betreffen, zum Beispiel: Wie viel Wohnraum brauchen wir tatsächlich? Und wie viel Wohnfläche dient dazu, Dinge abzustellen, die wir gar nicht benutzen (siehe unten)?
Wir brauchen also von allem ein bisschen weniger, um mehr zu haben?
Wir brauchen vor allem die Erlaubnis an uns selbst, dass wir es leichter haben dürfen. Als Eltern sind wir es gewohnt, durch den Alltag zu hetzen, so viel Gepäck mit uns zu schleppen, dass wir das oft gar nicht mehr infrage stellen. Als wäre es normal, ständig müde und gestresst zu sein.
Was sind denn die Gründe dafür, dass sich der Alltag oft so beladen anfühlt?
Das hat zahlreiche Ursachen. Ich glaube, vielen geht es ähnlich wie mir: Ich hab lange ein volles mit einem erfüllten Leben verwechselt. Ich wollte alles sein, und das sehr gut: eine fürsorgliche Mutter, eine arbeitende, selbstbestimmte Ehefrau, Freundin, Tochter, Schwester, dazu engagiert in Kita und Schule und ab und zu auch noch zum Sport. Überall Optionen, überall das Potenzial, noch etwas mehr herauszuholen. Absurd.
Ist es denn falsch, das alles zu wollen?
Es ist vor allem unmöglich. "Sei die beste Version deiner selbst!" – das ist so ein neoliberaler Bullshit, den wir aber leider verinnerlicht haben und den wir auch auf unsere Kinder übertragen. Für die wollen wir ja auch immer nur "das Beste". Das macht auch deshalb so einen immensen Druck, weil wir Sorge haben, diese Elternnummer gleich am Anfang zu vermasseln – mit lebenslangen Folgen für unser Kind. Ich habe mit meiner ersten Tochter heulend im Flur gesessen, weil ich Angst hatte, ihre Bedürfnisse nicht ausreichend zu sehen und am Ende dafür verantwortlich zu sein, dass sie im Leben gar nicht klarkommt. Dabei war sie da gerade ein paar Wochen alt.
Hast du diese Sorgen denn heute nicht mehr?
Inzwischen bin ich viel gelassener. Weil sie inzwischen eine Teenagerin ist und glücklicherweise keine Bindungsstörung hat. Und weil ich kapiert habe: Weder wir noch unsere Kinder müssen die beste Version von irgendwas sein. Ich plädiere für ein wohlwollendes "okay gut". Schon diese Akzeptanz hätte es mir damals leichter gemacht.
Wie macht man denn aus einem vollen ein erfülltes Leben?
Was ein erfülltes Leben ist, kann jeder nur für sich selbst beantworten. Aber für die Reise dahin würde ich Eltern gern zwei Dinge mitgeben. Zum einen wünsche ich ihnen einen gütigeren Blick auf sich selbst. Die Autorin Rike Drust hat mir mal in einem Interview einen Begriff beigebracht, den ich überaus wertvoll finde: Wir Eltern brauchen Egal-Kompetenz! Also die Fähigkeit, die wirklich wichtigen Dinge anzupacken und alles andere mit einem Schulterzucken zu quittieren. Keinen super Kuchen gebacken? Egal! Kein Workout für den After-Baby-Body? Egal! Wenn ich aber meine Kinder anbrülle, weil mein Tag einfach zu stressig war, ist mir das nicht mehr so egal. Dann packe ich es an und versuche, den Stress rauszunehmen. Weniger Termine und mehr Struktur im Alltag, das hilft bei uns ganz gut.
Und das Zweite, das du Eltern mitgeben willst?
Das ist ein kritischer Blick auf das Außen. Oft sind es ja nicht unsere Unzulänglichkeiten, an denen wir scheitern, sondern die absurden Erwartungen an uns. Die gute Mutter etwa opfert sich fürs Kind und ist gleichzeitig total emanzipiert. Der gute Vater ist präsent in der Familie, aber bitte auch der Familienernährer. Und die Kinder sollen sich frei entfalten, aber im Alltag immer funktionieren. Das kann keiner von uns erfüllen! Es ist wichtig und entlastend, sich kritisch mit diesen Erwartungen auseinanderzusetzen – denn nur so verändern wir die Dinge. Es darf nicht mehr nur in der Verantwortung jedes Einzelnen liegen, ob er sein Leben bewältigen kann.
Was würde Eltern denn konkret helfen?
Die Sache mit dem Mental Load ist auf jeden Fall eine krasse Belastung im Alltag. Also diese irre vielen To-dos, die wir im Kopf wälzen. Wer in einer Partnerschaft lebt, sollte das fairer verteilen. Dazu müssen wir aber auch lernen, vernünftig miteinander zu sprechen. Bei meinem ersten Gesprächsversuch mit meinem Mann sind wir krachend gescheitert. Ich war unzufrieden über seine – wie ich fand – mangelnde Beteiligung im Familienmanagement. Er fühlte sich nicht gesehen. Tatsächlich geholfen hat uns, alle To-dos mal detailliert aufzuschreiben. Und die Einsicht: Der andere kann nicht Gedanken lesen.
Und was muss die Gesellschaft tun?
Zum Beispiel eine Kinderbetreuung ermöglichen, die sich zeitlich und qualitativ am echten Bedarf der Familien orientiert. Hier kommen wir zum entscheidenden Punkt, nämlich der Zeit. Die Autorin Teresa Bücker hat es mal so formuliert: "Die wachen Stunden gehören der Wirtschaft, die müden der Familie." Eigentlich keine neue Erkenntnis, aber doch erschütternd, oder?
In deinem Buch sagt Hirnforscher Gerald Hüther unter anderem, wir hätten kein Problem mit der Zeit, sondern "ein Problem mit der Zuschreibung von Bedeutsamkeit".
Und es stimmt ja auch. Für die meisten Menschen ist die Familie das Bedeutsamste. Warum widmen wir dann nicht ihr unsere wache Zeit oder zumindest mehr unserer wachen Zeit? Tiefe Beziehungen und Fürsorge sind kaum möglich, wenn wir 40 Stunden auf der Arbeit sind, plus Pendeln, plus Einkaufen, plus …
Aber wie können wir es schaffen, dem Bedeutsamen wieder mehr Zeit zu widmen, ohne auf Job oder Kinder zu verzichten?
Zunächst ist es hilfreich, sich die Deutungshoheit über das, was einem wirklich wichtig ist, zurückzuerobern. Was für einen Lebensstandard wir haben, wie viel wir arbeiten, wie viele Kuchen wir selber backen – allzu oft machen wir Dinge, weil wir gewisse Glaubenssätze in uns tragen. Das neu zu verhandeln setzt natürlich voraus, dass wir überhaupt gewisse Gestaltungsspielräume haben. Wer kein Geld hat, entscheidet sich nicht unbedingt frei dafür, auf engem Raum zu wohnen. Und wer ohnehin ausgegrenzt wird, pfeift nicht so leicht auf Konventionen wie selbst gebackenen Kuchen fürs Kindergartenbuffet. Darum ist es auch unsere Pflicht als Gesellschaft, Antworten zu finden.
Falls wir aber den Gestaltungsspielraum haben – wie machen wir das Leben leichter?
Indem wir alles auf den Prüfstand stellen. Also wirklich alles: unseren Besitz, Freundschaften, bis zu der Frage, wie viel wir arbeiten wollen und müssen, um das für uns gute Leben leben zu können. Ein bisschen wie Marie Kondo bei ihren Aufräum-Aktionen: alle Klamotten auf einen riesigen Haufen, um zu sehen, wie absurd diese schiere Menge ist.
Bei euch ist also noch nicht alles minimalistisch clean?
Nein, im Gegenteil. Meine Herausforderung im Leben ist es, mich zu beschränken – und das zu lernen ist ein Prozess. Wir hatten so viele Dinge: Spielzeug, Gebasteltes der Kinder, Erinnerungsstücke – mit den Jahren wächst in der Familie ja ganz schön was an. Dazu hab ich noch viele Verbindlichkeiten wie Jobs, Freundschaften und Ehrenamt. Manchmal lag ich abends wach, weil ich nicht wusste, wie ich den nächsten Tag schaffen sollte. Dann dachte ich: "Nur noch diese Woche, dieser Monat, diese Etappe, dann wird es ruhiger." Das ist natürlich Quark. Es ist nie ruhiger geworden. Aber die Sehnsucht, ein Leben zu haben, das ich bewältigen und sogar genießen kann, die wurde immer größer.
Wie gehst du heute damit um?
Zum Beispiel reduziere ich Erinnerungsstücke. Ganz ehrlich: Die meisten Dinge bewahren wir doch für uns auf und nicht für die Kinder. Sie werden sich später vielleicht über das eine oder andere Teil freuen – aber sicher nicht über Kisten voller vergilbter Klamotten. Auch Verabredungen mache ich heute bewusster: Oft hatten wir einen so vollen Terminkalender, dass wir uns fast freuten, wenn Freunde das Essen absagten. Als wäre es geschenkte Zeit. Ist das nicht verrückt? Heute schenke ich mir diese Zeit schon vorher selbst und verabrede mich nur noch, wenn ich wirklich will. Und wenn ich im Alltag merke, mein Überforderungsgefühl setzt wieder ein, fange ich in irgendeinem Raum an auszumisten. Das führt oft dazu, dass ich auch mein inneres Chaos sortiere und der Druck nachlässt.
Und gibt es irgendwelche Anschaffungen, die du heute bereust?
Mein größtes Problem waren und sind die Geschenke. Wir haben super viel Kleidung und Spielzeug geerbt, und diese Mengen haben mich überfordert. Aber ich wollte nicht undankbar sein, außerdem hatte ich Sorge, etwas richtig Gutes zu verpassen. Also habe ich brav alles angenommen und am Ende gar nicht mehr gewusst, was in den Taschen alles ist. Seit Jahren arbeite ich daran, einen Überblick, ein besseres Verhältnis zu den Dingen zu bekommen. Und immerhin: Wenn mir meine Schwester heute eine Tasche mit Klamotten bringt, sortiere ich sie direkt aus und gebe alles, was ich nicht brauche, sofort zurück. Ein bisschen was habe ich also schon gelernt.
Ihr wollt mehr dazu lesen?
Weniger Druck und mehr Ruhe, um das Familienleben genießen und den Alltag bewältigen zu können: Um diese Sehnsucht geht es in Leonie Schultes Buch "Weniger ist mehr – was Familien wirklich brauchen", dem neuesten Band der Reihe ELTERN-Ratgeber (Verlag Dorling Kindersley, 16,95 Euro). Zu Wort kommen auch unterschiedliche Expertinnen und Experten wie der Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster und Margrit Stamm, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften.