Als ich selbst ein Kind war, hat mich der Ärger meiner Mutter noch gewundert. Wenn sie eine andere Mutter getroffen hatte und die „in den höchsten Tönen“ von ihrer Tochter geschwärmt hatte. Wie schlau die sei und wie schön und wie schnell im 400-Meter-Lauf, so gut in der Schule, so ein braves Kind. „Ich sag so was nie“, hat meine Mutter gesagt und mir über den Kopf gestreichelt. Und dass sie dann immer ganz still werde. Und sich denke: Dumme Kuh, gib doch nicht so an!
Ich treffe schon auch manchmal auf Eltern, die mit mir um die besten Kinder konkurrieren und flöten: wie hochbegabt ihres ist und so beliebt in der Klasse, alles fällt ihm leicht und, nee, krank ist es nie, und ich sag’s dir, das kann zeichnen, unfassbar! Vor meinem inneren Auge sehe ich dann meist eines der Mädchen, die mein Kleiner „Roboter“ nennt: Wesen, die nur Einsen schreiben und immer alles richtig machen und eines Tages unsere Welt beherrschen werden. Ich wundere mich dann, weshalb es uns Eltern so schwerfällt, unsere Kinder angemessen einzuschätzen. Denn eigentlich haben wir diese Angeberei doch gar nicht mehr nötig. So wie die Mütter in meiner Kindheit, die sich offenbar über ihre schönen Töchter defnieren mussten. Vielleicht weil es ihnen an Selbstbewusstsein mangelte oder an beruflicher Selbstverwirklichung.
Tatsächlich begegnet mir heute aber noch öfter das Gegenteil – und das irritiert mich noch mehr. Neulich wieder, eine Mutter redet über ihre Töchter: wie schlampig die seien, wie zickig, wie verpeilt und trotzig und immer nur auf Shoppen aus, Kohle und Klamotten. Ich werde ganz still und lausche, ob die Mädchen im Nachbarzimmer das hören können. Und denke: Was ’ne dumme Mutter-Kuh! Doch während sie weiterlästert, laut und wie selbstverständlich, höre ich mich selbst klagen. Was für Stubenhocker meine Kinder sind, das sage ich oft. Immer nur am Daddeln, nur Fußball im Kopf, nie treffen sie sich mal draußen mit Freunden und Mitanpacken im Haushalt, pfff, die sind so verwöhnt!
Natürlich ist mir klar, dass ich die Erziehungsverantwortliche bin. Aber es ist, als wollte ich mich nach außen hin entschuldigen. Dafür, dass ich zwar weiß, wie Roboter, äh, Kinder idealerweise zu sein hätten. Wie sie dann aber, trotzig und eigenwillig, meine Ansprüche durchkreuzen.
Vielleicht, denke ich manchmal, ist das ein Zeichen der Zeit: dafür, dass wir mit der Emanzipation ein ganz schön deftiges Selbstbewusstsein erlangt haben. Und uns damit jetzt von unseren Kindern abgrenzen. Früher: Ich hab’s leider nicht weit gebracht, aber aus meiner tollen Tochter wird mal was werden! Heute: Ich hab’s echt zu was gebracht, nur leider kommen meine Kinder da nicht ganz mit.
Ich weiß, das ist gemein. Aber noch gemeiner finde ich es, kleine Menschen mit einem unangemessenen Bild unter Druck zu setzen. Im Grunde, tief drin, wünschte ich mir, als ich die Mutter über ihre Töchter herziehen hörte, dass sie einfach ihre Klappe hält. Die Kinder einfach machen lässt. Und sie mit einem ebenso realistischen wie liebevollen Blick betrachten könnte. Denn dafür sind wir Eltern doch da!

NATALIE BLEUEL würde gern mal ihre Söhne berichten lassen, wie sich die Eltern so machen beim 400-Meter-Lauf, Zeichnen und im Haushalt. Im Shoppen ist Mama ganz gut, Papa beim Daddeln. Einsen haben sie schon lange keine geschrieben.