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Zurück ins alte Leben Mal kurz nach früher und alleine sehnen – Darf ich das?

Mutter sucht Ruhe im Chaos
© ArtMarie / iStock
Unsere Autorin wünscht sich manchmal ganz weit weg von Job, Mann und Familie. Einfach raus, allein sein, oder Urlaub im alten Leben machen. Ob diese Sehnsucht normal ist? Sie hat einen Experten gefragt und überraschende Antworten erhalten.

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Ja, ich gebe es zu: Ich sehne mich manchmal nach meinem alten Leben zurück. Ich träume dann von Rotwein, langen Nächten, überraschenden Küssen und großen Zukunftsplänen, an die man wirklich mit Inbrunst glaubte. Das sind die Momente, in denen ich nostalgisch an unsere WG-Partys denke, mich zurück auf durchweichte Festival-Isomatten meditiere. Die Momente, in denen ich alte Schulfreunde auf Facebook kontaktiere und nur fürs Gefühl ein Einzelzimmer im Hotel auf Helgoland buche (um es dann kostenfrei schnell wieder zu stornieren).

Burnout? Überforderung? Regretting Motherhood?

Von früher zu träumen ist mein kleiner Notausgang, wenn vor lauter Leben meine Birne fast platzt. Meetings, Kinder, Freunde, E-Mails, eine Mahnung im Briefkasten und ein Streit mit der Teenie-Tochter dazu und BÄM! Ich bin raus. Ich bin raus aus diesem Hier und Jetzt, in das alle so gerne wollen. Ich manchmal nicht. Und das macht mir durchaus Sorgen. Ist das schon Burnout? Überforderung? Bin ich eine Regretting Motherhood-Kandidatin, nur weil es diese Minuten gibt, in denen ich mein Leben zurückspulen will, um mal kurz wieder ein Gefühl von grenzenloser Freiheit zu spüren?

Ich beschließe, einen Experten in Sachen Elterngefühle zu fragen. Mathias Voelchert ist Gründer der Familienwerkstatt "familylab", schult Eltern, hält Seminare und schreibt sehr kluge Bücher für Familien. Und er ist zum Glück kein bisschen geschockt von meinen Fluchtphantasien. "Na, das sind doch sehr lebensbejahende Gedanken", sagt er lachend und schon hat er mein Mutterherz im Sturm erobert.

30 Prozent weniger tun es auch

"Den Impuls, ein Einzelzimmer auf einer Hochseeinsel zu buchen, finde ich toll!", sagt er. "Das ist nicht egoistisch, sondern sogar beziehungserhaltend." Dass ich mich manchmal ganz weit weg oder sogar kinderlos wünsche, findet er kein bisschen absurd. "Das ist ein ganz bekanntes Phänomen in Beziehungen", beruhigt er mich, "vor allem, wenn man Kinder hat. Denn dieses "Mutter oder Vater sein" ist unverrückbar. Das kann einem durchaus mal den Atem nehmen." Dann erklärt er mir, woher meine Sehnsucht rührt: "Wenn Fluchtgedanken hat, ist das ein deutliches Zeichen dafür, dass man seine eigenen Grenzen überschritten hat." Das glaube ich ihm gut und gerne. Aber gehört das nicht dazu, wenn man Kinder hat? Da stellt man sich doch immer ein bisschen hintenan. Oder nicht? "Alle versuchen, gute Eltern zu sein", sagt Mathias Voelchert. "Aber 30 Prozent weniger Fürsorge tun es meist auch. Und vor allem täte das allen gut. Denn entspannte Eltern haben entspannte Kinder."

Einfach mal wieder ein Buch lesen

Der Rat des Experten bei akuten Hochseeinsel-und Single-Phantasien: "Man darf seine Kinder ruhig mal frustrieren, um sich selbst zu entspannen. Es ist ok, einfach mal selbst ein Buch zu lesen, und deshalb keine Zeit für die Kinder zu haben. Es ist auch ok, sich ein Einzelzimmer auf Helgoland zu buchen und es ist unerlässlich, als Paar mal zu zweit das Haus zu verlassen. Alles ist erlaubt, was gut tut", sagt er. Überhaupt seien viele Eltern zu überfürsorglich mit dem Nachwuchs. "Die brauchen gar nicht so viel von uns wie wir glauben", ist er sich sicher. "Was sie aber brauchen, ist das Gefühl, dass man sich entspannen darf in der Familie und sie brauchen Vorbilder, die sich gut abgrenzen können." 

Pssst, ich lese

Nach dem Gespräch mit Mathias Voelchert nehme ich mir vor, das mit dem Entspannen heute Abend mal auszuprobieren, mich einfach mitten ins Chaos zu setzen und ein Buch zu lesen, komme, was wolle. Vielleicht werde ich danach ein Einzelzimmer auf Helgoland buchen. Nur werd ich es diesmal nicht stornieren. Und das  alles tue ich ganz im Sinne des Allgemeinwohls. Denn entspannte Eltern haben entspannte Kinder. Und keiner muss sich schämen für Fluchtphantasien. Denn die haben nichts mit mangelnder Liebe zu tun.

Mathias Voelchert (1953) ist Gründer und Leiter von familylab.de – die familienwerkstatt in Deutschland. Er ist Betriebswirt, Ausbilder, Praktischer Supervisor, Coach mit systemischer Ausbildung und diversen Weiterbildungen, Autor und seit 1983 selbstständiger Unternehmer. Mathias Voelchert berät Paare, Familien, Schulen und Unternehmer/Unternehmen zum Thema Gleichwürdigkeit und gelingende Beziehungen. Er ist Vater von zwei erwachsenen Kindern. Sein neuestes Buch: Liebevolle elterliche Führung.


Dieser Artikel ist zuerst erschienen bei BRIGITTE.de.

Wie entgeht man als Eltern dem Burnout?

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