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"Trau dich, deine Eltern zu enttäuschen“ Was ist Entelterung?

Sandra Teml-Jetter: Eine Frau sitzt am Strand und schaut auf das Meer
© splendens / Adobe Stock
Wie wir aus ungesunden Verstrickungen und Verhaltensmustern aussteigen. Ein Gespräch mit der Psychologischen Beraterin Sandra Teml-Jetter.

Die Psychologische Beraterin und Entelterungs-Expertin Sandra Teml-Jetter hilft Menschen unter anderem dabei, einen erwachsenen, reifen Umgang mit ihrer Ursprungsfamilie und in der Jetztfamilie zu erlangen. Zum Thema Entelterung hat sie einen Kurs entwickelt. Im Interview spricht sie darüber, wann die Loslösung von den Eltern notwendig ist und wie man mit dem schlechten Gewissen umgeht.

Eltern: Was ist Entelterung?

Sandra Teml-Jetter: Aus ungesunden Verstrickungen und Verhaltensmustern auszusteigen, die entstanden sind, als wir uns noch als Kinder auf unsere Eltern beziehen mussten. Aus der Rolle herauszuwachsen, die wir aus unserem Ursprungsfamiliensystem einnehmen mussten, in dem wir uns oft stark anpassen mussten. Wenn wir selbst Eltern werden, verschiebt sich das gesamte Rollenverständnis im System. Sachen, die für uns vorher normal waren, sind dies plötzlich nicht mehr. Vor allem, wenn wir im Umgang mit unseren Kindern sehen, dass wir ein ganz anderes Verständnis von Erziehung als unsere Eltern haben. Entelterung ist nicht der Kontaktabbruch mit den Eltern. Es ist auch kein Elternbashing oder Elternblaming. Vielmehr geht es darum, gemeinsam zu schauen, ob gewisses Verhalten heute noch sinnvoll ist oder ob wir uns unseren Eltern heute anders präsentieren können.

Das heißt, man spielte bisher eine Rolle?

Eine Klientin von mir hatte zwei Brüder. Sie sollte als Aushängeschild der Familie als Mädchen immer adrett gekleidet in die Schule gehen. Auf der Fahrt im Zug hat sie sich umgezogen und Faltenrock und Ballerinas gegen Jeans und Doc Martens ausgetauscht. Sie hat den Tag sozusagen mit ihrem wahren Selbst bestritten und sich auf dem Weg nach Hause wieder in das Mädchen verwandelt, das ihre Eltern sehen wollten. Aus Liebe oder aus Angst tun wir manchmal Dinge, von denen wir glauben, sie seien richtig oder gehörten sich so. Entelterung ist die Einladung, sein eigenes Normal in Bezug auf die Eltern zu hinterfragen.

Wie bemerkt man den Bedarf nach Entelterung?

Wenn es nach einer Begegnung mit den eigenen Eltern an Energie fehlt, du schlechter drauf bist als vorher, deine Paarbeziehung und deine jetzige Familie unter der Beziehung leiden.

Entelterung bedeutet, dass du die metaphorische Sauerstoffmaske nicht mehr nach hinten gibst, in dein Ursprungssystem, sondern dir selbst zuerst aufsetzt. Wenn du Eltern hast, die von dir wollen, dass du am Sonntag Rasen mähst, weil du immer Rasen gemäht hast oder du sie zu Weihnachten besuchen sollst, am Muttertag, obwohl du nicht willst und auch nicht kannst, dann wird sichtbar, dass der Fluss des Lebens rückwärts fließt. Zurück zur Elterngeneration und nicht in die Zukunft. Ich glaube daran, dass es gut ist, sich abzulösen. Verstrickung drückt das gut aus. Wir sind emotional miteinander verschmolzen. Abhängig.

Ich bin immer für Loslösen. Eine Loslösung ist keine Trennung, sondern ein Auftrennen von alten Mustern.

Wann ist ein Kontaktabbruch unumgänglich?

Wenn Eltern nachhaltig grausam sind. Uneinsichtig. Wenn Gewalt vorherrscht, muss man da nicht hinfahren. Eltern sind auf verschiedene Weise gewaltvoll. Das zu erkennen, tut oft weh.

Jede Familiengeschichte ist individuell. Aber meine Frage würde lauten: Was erwartest du von deinen Eltern, wenn du sie siehst? Hast du noch die Hoffnung, dass sie sich ändern? Die Ausrichtung in meiner Arbeit ist es, herauszufinden, was du selbst neu machen kannst. Was kannst du tun, wenn zum Beispiel dein Vater am Tisch beginnt, frauenfeindliche Witze zu erzählen? Vielleicht bist du es so gewohnt – aber jetzt hast du selbst Kinder und willst das nicht mehr: Ich will nicht, dass meine Kinder in einer Atmosphäre aufwachsen, in der über Frauen so gesprochen wird. Und plötzlich fällt es dir wie Schuppen von den Augen, dass die eigene Mutter ja auch eine Frau ist, über die so gesprochen wird und sie auch nie was gesagt hat, wenn Vater und Bruder sexistische Witze erzählen. Jetzt ist die Frage: Was tust du? Und wie tust du es? 

Wie geht man Entelterung dann an?

Bahnbrechend hat das David Schnarch erarbeitet. Er hat eine mentale Vorbereitung in Form von Visualisierungen und Dialogen entwickelt, die dir als Erwachsene eine neue Rolle auf den Leib schreibt. Grob gesagt: Lös dich von deiner alten Rolle, schaffe Distanz. Überrasche deine Eltern mit deinem neuen Verhalten. Beziehe Stellung.

Es ist ein Prozess. Wenn wir in einem emotionalen Krisengebiet aufgewachsen sind, dann ist uns das so vertraut, dass wir mit Frieden erst mal gar nichts anfangen können und uns oft selbst boykottieren.

Bist du selbst enteltert?

Auch ich musste mich lösen. Es gab Zeiten, da musste ich auf Abstand gehen. Ganz nach dem Motto: Ich habe drei Kinder, ich habe jetzt keinen Kopf dafür. Ich musste mich sortieren, überlegen, was will ich überhaupt? Wer bin ich überhaupt? Wie will ich mich auf meine Eltern neu beziehen? 

Meine Eltern waren sehr hartnäckig an mir dran und wollten Beziehung. Das schätze ich sehr an ihnen. Wir hatten Unterstützung. Ich staune über diesen Weg und gebe mir Mühe, selbst die Veränderung zu sein, die ich von ihnen gerne hätte. Das macht mich frei. 

Was macht man, wenn man wütend ist?

Sei wütend, wenn du wütend bist. Es ist gut, wütend zu sein. Aber nimm den Druck raus. Triff keine Entscheidungen aus der Wut heraus. Wenn man erkennt, was alles los war, ist oft erst mal Erschütterung da. Man denkt in erster Distanz vielleicht: Wie kann ich da jemals wieder hingehen? Wenn deine Friedenslösung ist, nie wieder hinzugehen, ist das okay. Aber es ist schwierig, wenn man aus der Emotion heraus handelt, solange die Wut noch so spürbar ist. Lieber erst mal schauen, was ich wirklich will. Gerne mit etwas Abstand.

Wie geht man mit dem schlechtem Gewissen seinen Eltern gegenüber um?

Wenn du beschlossen hast, die Beziehung zu deinen Eltern zu ändern und ihnen sagst, dass du diese Zeit für dich brauchst und ihnen noch nicht sagen kannst, wann sie euch wiedersehen und sie trotzdem möchten, dass du an Weihnachten kommst, dann geht es in erster Linie darum, dass du dich traust, deine Eltern zu enttäuschen. Wenn wir jemanden enttäuschen, müssen wir der Person zumuten, dass sie mit der Enttäuschung auf ihre Art und Weise umgehen kann. Gehe davon aus, dass deine Eltern versuchen, dich in die alte Position zu bringen, gekränkt sind, dich erpressen oder manipulieren. Deine Aufgabe ist es, standhaft zu bleiben. Ein schlechtes Gewissen bekommen wir dann, wenn wir Angst haben, die Zugehörigkeit zu verlieren. Was riskieren wir, wenn wir nicht mehr mitspielen?

Die Eltern als Großeltern: Wie geht man bei einem schwierigen eigenen Verhältnis vor? Zum Beispiel bei einem geplanten Urlaub und eigenen zwiespältigen Gefühlen dazu?

Es gibt viele Wege. Einer wäre zu sagen: Ich fahre jetzt noch mal mit und beobachte. Ich sehe es als Selbsterfahrung und schaue, wie ich automatisch reagiere.

Eltern können als Großeltern anders sein. Ich bin mit einer Großmutter aufgewachsen, die ich nicht als Mutter hätte haben wollen, aber als Großmutter war sie großartig. Man muss von Fall zu Fall schauen. Etwas aus einer Verpflichtung heraus zu machen, zu denken, das gehört dazu – solche Gedanken gebe ich gern zur Inventur. Sich selbst erlauben, eine neue Entscheidung zu treffen. Da lohnt sich das Hinterfragen.

Woher weiß ich, dass ich enteltert bin? 

Zum Beispiel, wenn du deinen Eltern angstfrei begegnen kannst und sich sämtliche Beziehungen gut und richtig anfühlen. Wenn du Konflikten nicht mehr aus dem Weg gehst, sondern dich stellst. Das Verhalten deiner Eltern emotionalisiert dich nicht mehr, du kannst damit umgehen, Stellung beziehen. Ich bin emphatisch – aber lasse ihnen ihre Emotionen. Es ist ihr Schmerz, ihre Geschichte. Ich habe erkannt, wie sehr sie noch Gefangene ihrer Biografie sind. Es ist, wie es ist. Es ist ein Prozess!

Sandra Teml-Jetter

Die Psychologische Beraterin und Eltern- und Paarcoach-Supervisorin ist gebürtige Oberösterreicherin, heute Wienerin, Mutter von zwei Söhnen und einer Tochter. Gemeinsam mit Jeannine Mik schrieb sie "Mama, nicht schreien!" und "Keine Angst, Mama!". Als Entelterungs-Expertin hilft sie Eltern unter anderem dabei, einen erwachsenen, reifen Umgang mit und in der Ursprungsfamilie und in der Jetztfamilie zu erlangen. Zur Entelterung hat sie einen Kurs entwickelt, in dem sie Menschen über sieben Wochen begleitet:

wertschaetzungszone.at 

entelterung.at  

Zum Weiterlesen

• Jesper Juul: "Aus Erziehung wird Beziehung", Herder, 12 Euro

• Siri Hustvedt: "Mütter, Väter und Täter", Rowohlt, 28 Euro

• Michael Bordt: "Die Kunst, die Eltern zu enttäuschen", Elisabeth Sandmann, 11 Euro

• Stefanie Stahl: "Das Kind in dir muss Heimat finden", kailash, 14,99 Euro

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