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Ab 3 Jahren: Ich bin kein Opfer
Kein Kind muss sich unangemessen behandeln lassen, sagt der Selbstbehauptungstrainer Frank Henning, 56. Er bietet seit 18 Jahren "Stopp! Ich wehre mich"-Kurse an. Im ELTERN-Interview erklärt er, wie Kinder ab drei Jahren lernen können, sich selbst zu behaupten.
ELTERN Family: Ab welchem Alter können Kinder Selbstbehauptung üben?
Frank Henning: Unsere Kurse beginnen mit fünf. Aber auch schon davor können Eltern ihrem Kind vermitteln, dass es ein Recht hat, sich zu wehren.
Und was heißt das?
Auch kleine Kinder wissen genau, wenn ihnen etwas nicht passt – und zeigen das deutlich. Das müssen Eltern verstehen und respektieren. Bei uns lernen die Kinder dann angemessene Reaktionen. Zum Beispiel, dass man im Sandkasten nicht gleich mit der Schaufel haut, sondern erst mal redet. Sie lernen auch, durch eine entsprechende Körpersprache Selbstbewusstsein auszustrahlen, um deutlich zu signalisieren: "Hallo, ich bin kein Opfer!" Für den Ernstfall üben wir, wie man einen Angreifer sehr effektiv wegstoßen kann. Die meisten sind davon nämlich sehr überrascht – und ziehen sich schon deshalb zurück, weil sie damit nicht rechnen. Vor allem wenn das Kind gleichzeitig ganz laut "Stopp" ruft. Das laute "Stopp" ist ein ganz wesentliches Element der Selbstbehauptung.
Warum trainieren Sie am liebsten Kita-Kinder und Grundschulkinder zusammen?
Würden die Kleinen nur mit anderen Kleinen üben, fänden sie alles prima. Es bleibt nur ein Spiel. Wenn dann aber ein Erstklässler plötzlich einem viel größeren Viertklässler gegenübersteht, bekommt er Schnappatmung und traut sich gar nichts mehr. Haben Kinder diese Situation jedoch unter realistischen Bedingungen geübt, funktioniert die Abwehr besser – zum Beispiel das Wegstoßen.
Provozieren Sie mit Ihren Kursen nicht Prügeleien unter kleinen Kindern?
Nein, das Gegenteil ist der Fall. Die Kinder lernen bei uns, zu deeskalieren. Ihr selbstbewusstes Auftreten sorgt fast immer dafür, dass Konflikte beendet werden, bevor es zu einer Prügelei kommt.
Was können Eltern tun, um ihren Kindern mehr Sicherheit zu geben?
Keine Panik verbreiten. Die meisten Menschen haben gute Absichten. Aber es gibt zwei Regeln, die schon Kita-Kinder kennen müssen. 1. Gehe niemals mit jemandem mit (egal, ob du die Person kennst oder nicht), und steige in kein Auto, außer deine Eltern haben es ausdrücklich erlaubt. 2. Wenn dir etwas komisch vorkommt oder unangenehm ist, rufe laut: "Lassen Sie mich in Ruhe!" Das kann man auch zu Hause üben.
Zauberwort "STOPP"
Drei Bücher für zu Hause:
1. Zum Hören: "Stopp, ich will das nicht", Hörbuch von Brigitte Kolloch und Elisabeth Zöller, SAGA Egmont, 6,95 Euro
2. Zum Vorlesen: "Der Kindergarten STOPP-ALARM" von Marion Klara Mazzaglia, Best-Off-Verlag, 15,95 Euro
3. Zum Anschauen: "Nein heißt Nein, sagt die Maus", Bilderbuch von Martin Fuchs und Hildegard Müller, Ueberreuter-Verlag, 14,95 Euro
Ab 8 Jahren: Hand auf den Bauch
Grundschulkinder sind schon ziemlich selbstständig und ziehen größere Kreise. Da kommt es häufiger zu kritischen Situationen. Die Münchner Pädagogin Ouarda Saillo, 48, hat Lösungsvorschläge:
Im Bus. Ein Erwachsener sagt zu Rachida, 8, "Rutsch mal rüber!" und will sich auf den Gangplatz setzen.
Die Regel lautet: In Bus, Bahn und Tram sitzen Kinder immer am Gang, damit niemand sie blockieren kann. Wenn ein Erwachsener Kinder so bedrängt, ist es für eine Achtjährige schwierig zu argumentieren. Das überfordert sie. Gut, wenn man vorher schon in der Familie besprochen hat, wie man da am besten reagiert: nicht diskutieren, einfach aufstehen und weggehen.
Nach dem Schwimm-Training, es wird schon dunkel. Auf dem Heimweg folgt Tom, 10, eine unheimliche Person.
Klarer Fall: Straßenseite wechseln. Wenn die Person immer noch folgt. Handy raus, Eltern anrufen, sich am Telefon begleiten lassen. Im Notfall andere Erwachsene ansprechen – oder in einen Laden bzw. Lokal gehen und die Situation erklären! Eine gute Idee ist es, mit Kindern, die in diesem Alter allein unterwegs sind, vorher den Weg zu besprechen. Und eine feste Uhrzeit – vor allem dann, wenn sie eher verträumt, ein bisschen verpeilt oder durch Handy-Dauerglotzen permanent abgelenkt sind.
Oma Luise will Sina, 9, immer küssen.
Niemand darf Kinder ungefragt berühren oder küssen. Kinder können ganz leicht rauskriegen, ob eine Berührung gut ist oder nicht: Sie legen die Hand auf den Bauch und achten auf ihr Bauchgefühl. Wenn das unangenehm ist, dann gibt es ein klares "Nein" – und das müssen alle respektieren.
Omar, 8, trifft auf der Schultoilette einen fremden Mann.
Die Schule sollte ein geschützter Raum sein. Und in Grundschulen, in denen es bereits entsprechende Vorfälle gab, gehen die Kinder oft zu zweit auf die Toilette, wenn sie während des Unterrichts müssen. Grundsätzlich sollten die Kinder wissen: Lungern unbekannte Person im Schulhaus rum: nicht lange überlegen, sofort ins nächste Klassenzimmer oder ins Rektorat. Alarm schlagen.
Frieda, 11, wird gemobbt, weil sie nicht so coole Klamotten hat wie die anderen.
Allein können Kinder mit Mobbing kaum fertig werden. Wenn sie keine Hilfe bekommen, kann dies zu einem traumatischen Erlebnis werden. Deshalb ist es so wichtig, dass die Kinder ihren Eltern vertrauen und sich auch in schwierigen und peinlichen Situationen an sie wenden können. Bei anhaltendem Mobbing am besten auch Klassenlehrer, Vertrauenslehrer oder Schulpsychologen einschalten – viele kennen das Problem, denn leider gibt es jedes Jahr Hunderttausende von Mobbing-Fällen an deutschen Schulen. Und immer mehr Präventionsprogramme.
Ab 12 Jahren: Fuß zwischen die Beine
Die israelische Selbstverteidigungsmethode Krav Maga gilt als die effektivste der Welt. Aber wichtiger als Tritte und Schläge ist das neue Selbstbewusstsein, das Teenies dadurch erlangen.
Luisa*, 13, trägt ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift Krav Maga Germany und hält sich ein Polster vor den Körper. Das ist auch sehr vernünftig. Denn vor ihr tänzelt Lara, 15, herum und tritt nach Luisa. Mit aller Kraft. "Nicht mit den Zehen", ruft John Freeman, "das tut weh. Ihr müsst mit dem Fußballen treffen." Der 48-jährige Engländer ist Deutschland-Direktor der International Krav Maga Federation. Hier im Keepsafe-Zentrum München trainiert er Teenies in der israelischen Selbstverteidigungstechnik: Bei Krav Maga geht es darum, Schläge, Tritte und Waffen effektiv abzuwehren, blitzschnell einen der Schmerzpunkte am Körper des Täters oder der Täterin zu treffen – Kehlkopf, Nase, Augen, Genitalien – und dann: nix wie weg, bevor er oder sie sich wieder erholt.
"Ich hab eine Frage", ruft Lara, nachdem die Trainingseinheit abgeschlossen ist, "wohin soll ich treten, wenn es ein echter Angriff ist?" "Zwischen die Beine", sagt John. "Auch bei einer Frau?", fragt Lara. "Auch bei einer Frau", sagt John, "da tut es allen weh."
Selbstbewusstsein durch die Möglichkeit, sich richtig zu verteidigen
50 Münchner Teenies werden von John trainiert, heute sind 15 Mädchen und fünf Jungs dabei. "Ich mache das, weil ich mich im Notfall verteidigen können will", sagt Ricarda, 15, "und weil es mich selbstbewusster macht." Das lernen die Kinder hier: Macht euch groß, geht aufrecht, seid aufmerksam und haltet Blickkontakt. Nicht weggucken, nicht wegducken. Wer aufmerksam ist, erkennt kritische Situationen rechtzeitig und kann ihnen aus dem Weg gehen, bevor es eskaliert. Das ist die wichtigste Technik: Konflikte vermeiden. Und nur wenn das nicht klappt, kämpfen.
Wie in der nächsten Trainingseinheit: Es geht um eine Würgeattacke. Zwei Hände am Hals. Was tun? Eigentlich ganz einfach: Mit einer schnellen Bewegung die Hände wegschlagen, kräftig zwischen die Beine treten, vorsichtshalber noch ein Handballenschlag gegen die Nase – und rennen. Funktioniert bei allen schon ganz gut. Nur Clara traut sich nicht richtig. "Krass", sagt sie, "ich werde angegriffen und gewürgt und habe Angst, dass ich dem Angreifer wehtue." "Das ist am Anfang bei den Kindern oft so", sagt John. "Sich ernsthaft zu verteidigen bedeutet, es mit maximaler Kraft zu tun. Das erfordert Überwindung. Aber hier im Training kann nichts passieren. Alle Kinder tragen Unterschutz."
Leo ist 14. Er trainiert Krav Maga seit sieben Jahren. Warum? "Ich wurde in der Grundschule ständig gemobbt, weil ich ein bisschen pummelig war und nicht so gut Deutsch konnte. Ich komme aus Polen." Die anderen Kinder schubsten ihn, warfen seine Schulsachen durchs Klassenzimmer, zerbrachen seine Stifte. Leos Vater schickte ihn zum Krav Maga, schon ein paar Wochen später parierte er eine neue Attacke mit einer der Techniken aus dem Training. "Seitdem", sagt Leo, "hat sich vieles zum Guten verändert. Ich bin viel selbstbewusster geworden. Und schon lange traut sich keiner mehr, mich zu ärgern."
Mehr Infos und eine Standortkarte der 45 Krav-Maga-Clubs in Deutschland gibt es unter ikmf-kravmaga.de.
*alle Namen geändert
Wenn der Angreifer unsichtbar ist
Krav Maga hilft gegen physische Attacken. Manchmal ist der Angreifer aber auch unsichtbar, z. B. beim Cybermobbing. "Coole Kids Smart im Netz" ist ein interaktives Workbook, das Kinder und Eltern für die Gefahren im Netz sensibilisiert – und zeigt, wie man sich gegen Cybermobbing, Cybergrooming und Sexting wehrt: minago.net, 14,95 Euro
30 Prozent
Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2019 fühlt sich etwa ein Viertel aller Kinder in der Schule nicht sicher. Besonders hoch, so die Studie, sei der Anteil an Übergriffen in Grundschulen: Knapp 30 Prozent der Befragten hatten angegeben, in jüngster Vergangenheit von anderen Schülern gehänselt, ausgegrenzt und zudem noch "absichtlich gehauen" worden zu sein.