Mit so kleinen Kindern in eine so große Stadt? Das Entsetzen stand den anderen Krabbelgruppen-Müttern ins Gesicht geschrieben, als ich ihnen erzählte, dass wir mit unserem Baby und unserem Kindergartenkind planten, für ein paar Jahre nach London zu ziehen. Es schien, als gäbe es da ein ungeschriebenes Gesetz für junge Eltern: Wenn man umzieht, dann aufs Land.
Tatsächlich machen das ja viele: Raus ins Grüne ziehen, wo die Kinder mehr Platz zum Spielen haben und Traktoren nicht nur aus dem Bilderbuch kennen. Wir gingen den entgegengesetzten Schritt: Rein in eine der größten Metropolen Europas, in der wir uns aufgrund der völlig verrückten Mieten nur eine winzige Zwei-Zimmer-Wohnung ohne Garten oder Balkon leisten konnten.
Entsprechend viel Zeit verbrachten wir draußen: auf Spielplätzen, in Museen, in Parks. Unsere Kinder lernten U-Bahn-Fahren und vierspurige Straßen sicher zu überqueren, gewöhnten sich an grölende Fußballfans draußen vor dem Fenster und das Donnern der Flugzeuge im Landeanflug alle drei Minuten. Denn wir lebten damals in der Einflugschneise eines riesigen Flughafens. Vor allem aber gewöhnten sie sich an die niemals endenden Angebote für Kinder und Familien, die so eine Großstadt bietet: Kinderkonzert hier, Familienführung da, Bilderbuchfest, Tanzworkshop, Eltern-Kind-Picknick. Es war immer etwas los, es gab immer was zu tun, und es wurde wirklich niemals langweilig.
Großstädte werden immer familienfreundlicher
Wer kleine Kinder hat und in einer großen Stadt lebt, traut sich oft kaum, über diese Vorteile zu sprechen. So mächtig ist die Erzählung von der glücklichen Bullerbü-Kindheit auf dem Land. Dass Großstadteltern oft das Gefühl haben, sie müssten sich fast schon automatisch für ihren Wohnort entschuldigen, den sie in jedem Fall aus egoistischen Gründen gewählt haben, während ihr armes Stadtkind sicher auf einem großen Feld voller Heuballen glücklicher wäre. Oder?
Ich glaube, es wird Zeit, mit diesem Klischee aufzuräumen. Stadtkindheiten können etwas Wunderbares sein. Denn auch wenn die Städteplaner hierzulande vielleicht noch nicht so weit sind wie in Kopenhagen oder Amsterdam, so sind unsere Städte in den vergangenen Jahren dennoch immer familienfreundlicher geworden. Familienzentren und Mehrgenerationenhäuser prägen das Stadtbild ebenso wie moderne Spielplätze, Schwimmbäder und Parks. Und Museen und andere Kultureinrichtungen haben längst erkannt, dass wir Eltern mit kleinen Kindern eine total attraktive Zielgruppe sind: wissbegierig, begeisterungsfähig und mit viel Freude an neuen Abenteuern. Kein Wunder, dass immer mehr Ausstellungen museumspädagogisch aufgerüstet haben und Schatzsuchen und Entdeckertouren anbieten, die bereits Kita-Kindern Spaß machen. Und die noch kleineren Kinder? Können in der Großstadt mit Mama oder Papa zig Angebote vom Gebärden-Kurs bis zum Baby-Yoga besuchen, während ihre Altersgenossen auf dem Land froh sein können, wenn die örtliche Kirchengemeinde einmal in der Woche eine Krabbelgruppe anbietet.
Schluss also mit dem schlechten Gewissen, wenn wir unsere Kinder in großen oder sehr großen Städten ins Leben begleiten – gerade wenn wir Eltern selbst echte Großstadtpflanzen sind, ist für die Kinder das Aufwachsen an einem Ort, an dem wir uns selbst wohlfühlen, garantiert besser, als in einer Landidylle zu leben, die uns Erwachsene unglücklich macht. Anders sieht es natürlich aus, wenn wir im Herzen eher Landeier sind. Dann kann so ein Zuhause im Grünen das ganz große Glück bedeuten – zumindest, bis die eigenen Kinder in die Pubertät kommen und ständig überall hinkutschiert werden müssen, weil der Bus nur viermal am Tag fährt. Und manchmal hat man auch einfach nicht die Wahl. Dann kommt ein neuer Job oder eine neue Liebe dazwischen und bringt ein neues Zuhause mit sich, ganz woanders und einfach so. Dann kann es zum Beispiel passieren, dass überzeugte Großstadteltern plötzlich in einem 2000-Seelen-Dorf landen, wie wir durch eine unverhoffte berufliche Veränderung meines Mannes vor zwei Jahren.
Landleben wie im Bilderbuch
Seitdem leben wir wie im Ali-Mitgutsch-Wimmelbuch: mit Pferden und Kühen direkt nebenan und allerlei Landmaschinen vorm Fenster. Den Fluglärm haben wir gegen Hühnergegacker eingetauscht, das reiche kulturelle Leben gegen Fastnachtsumzüge und Dorffeste. Es ist ein sehr anderes Leben. Und ein ebenfalls total schönes. Klar, es dauert ein bisschen, bis man auf dem Land Anschluss gefunden hat. Man fährt mehr Auto und hat weniger Auswahl, was Kitas, Schulen und Pizza-Lieferdienste angeht. Dafür können sich unsere kleinen Kinder tatsächlich viel freier bewegen als ihre großen Geschwister dies einst in der Großstadt konnten, und haben längst Freundschaft mit verschiedenen Menschen und Tieren entlang ihrer täglichen Wege geschlossen.
Kommen wir doch noch mal in eine große Stadt, ist jede Fahrt mit der Rolltreppe ein Abenteuer – so wie es für unsere großen Kinder einst ein Besuch auf dem Bauernhof war. Was zeigt: Ein prima Zuhause können Kinder überall haben – und die tollsten Ausflugsziele sind dann immer die Orte, wo alles ganz anders ist als daheim.
Nora Imlau schreibt als freie Autorin für ELTERN, sie hat einen erfolgreichen Blog (nora-imlau.de) und viel Erfolg mit Bestsellern wie "So viel Freude, so viel Wut“, Kösel, 20 Euro, oder "Mein Familienkompass", Ullstein, 22,99 Euro.