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Ein Mädchen! Als ich mein erstes Kind erwartete, war der Ultraschall eindeutig. Und ich schwor mir noch am selben Tag: Selbstbewusst und frei würde ich meine Tochter erziehen. Den halben Himmel sollte sie erobern und die halbe Erde dazu.
Doch kaum waren acht, neun Jahre vergangen und ich inzwischen Mutter zweier Töchter, kam die Ernüchterung: Ständig spielte die Große Verkleiden, mit Klackerschuh und Handtäschchen. Sie stopfte sich dazu jedes Mal Tennissocken ins Bustier und flötete mit künstlicher Piepsstimme: „Naaain, meine Liebe?“ Und die Kleine spielte das Spiel begeistert mit.
Außerdem gaben meine zwei bei Wettrennen sofort auf, wenn ein anderes Kind die Nase vorn hatte. Oh, dachte ich, so wird man aber nicht durchsetzungsstark! Und: Das würde kein Junge so machen. Oder?
Was ist Anspruch, was Wirklichkeit?
Es wurde noch komplizierter, als ich kurz darauf begann, „Angewandte Sexualwissenschaften“ zu studieren. Mein Bewusstsein für Ungerechtigkeiten stieg mit jedem Seminar. Doch was auf Partys für spannende Gespräche und heitere Blicke in Richtung meines Mannes sorgte (… ahaa, angewandt also?), brachte mich als Mutter noch mehr in die Bredouille. Denn vom monatlichen, gendersensiblen Blockseminar – „Ich bin eine Cis-Frau und möchte weiblich angesprochen werden“ (siehe Definitionen unten) – rauschte ich mit Vollgas in meinen Retro-Alltag: Papa Vollzeit, am Morgen Tschüss. Mama teilzeitflexibel für Haushalt, Krankheit und Kindersorgen. Und ich ahnte: Eben dieser Sachverhalt hatte einiges zu tun mit der nächsten Frage:
Wie kommen die Klischees ins Kind?
Diese Frage stellte ich mir als Mutter. Und als angehende Sexualwissenschaftlerin. Warum spielt die eine Fraktion mit Bagger, Ritter und Peng-Peng, während die andere als Prinzessin Puppen hätschelt – und das, obwohl wir uns doch so bemühen, ihnen alle Wege offen zu lassen? Im Seminar lernte ich viel über die psychosexuelle Entwicklung. Etwa, warum schon Kleinkinder die vorgefertigte Zweiteilung draufhaben. Ja, genau: Weil. Wir. Sie. Vorleben. Jedenfalls die meisten von uns. Punkt. Und so ordnen sie noch in den Windeln das typische Aussehen und Verhalten von Mann und Frau und etwa mit drei Jahren sich selbst in die überall angebotenen Schubladen ein. Das ist einerseits gut so, denn das gibt Orientierung, aber: „Hilfe, sind diese Schubladen eng“, seufzte sogar meine Schwiegermutter, Ex-Grundschullehrerin angesichts der Farben-, Zonen- und Thementrennung bei Spielzeug, Mode, Filmen, Duschgel. Sie hatte schließlich schon in den 70ern versucht, solchen Geschlechtsklischees etwas entgegenzusetzen – mit möglichst neutralem Spielzeug und neutralen Klamotten.
So etwa mit vier, fünf wird den Kindern dann klar: Ich bin und bleibe ein Junge oder ein Mädchen. Dazugehören ist alles. Doch früher als man denkt, manchmal schon mit fünf oder sechs merken Kinder, wenn sie nicht ins Bild passen. Manche sind nicht „typisch“ jungs- oder mädchenhaft. Andere erleben schon in der Grundschulzeit Verliebtheitsgefühle fürs gleiche Geschlecht. Manche hadern mit ihrem biologisch ja scheinbar so eindeutigen Geschlecht. Dazu habe ich viele Geschichten gehört von Menschen, die quer zum Mainstream lieben und leben. Mir wurde klar: Genau das ist ein wichtiger Grund, nicht so sorglos mit den heterosexuellen Standards und dem Wort „normal“ zu hantieren. In jedem Umfeld gibt es ein Kind, das sich nicht im Mainstream entwickelt. Und manchmal ist es sogar das eigene.
Warum diese Extreme?
Und auch diese Erkenntnis war wichtig und half gegen meinen Frust, wenn sich meine Tochter das nächste Mal das Oberteil mit Tennissocken ausstopfte: Bei Rollenspielen gehen Kinder in die Extreme. Sie erspielen sich die Geschlechter mit genau jenen Klischees, die sie in ihrem Umfeld und in den Medien erleben: „Naaain, meine Liebe!“ Sie wollen hineinpassen, wie Große sein, besonders, Star, Prinzessin, Held, Kämpfer.
Im Sexualwissenschaft-Studium wurde Selbstreflexion großgeschrieben. Erinnerst du dich? Das war eine häufige Frage im Seminarraum. Und ja, ich erinnerte mich. Daran, wie faszinierend es war zu wissen, dass da bald eine Brust wachsen würde, wo es jetzt noch flach war. Wie schön „sich schön machen“ war, übrigens für Mädchen und Jungen.
Meine genervte Reaktion heute sagte also mehr über mich aus als über meine Kinder. Denn am Ende meiner Unisex-Zeit (also als sich mein Körper mit zwölf Jahren zu runden begann) fühlte ich mich, als würden mir die Flügel gestutzt, „das macht eine junge Frau nicht“: Solche Sätze hörte ich damals öfter. Von meinem Vater. Meinen Verwandten. Und plötzlich wurde das Geschlecht ein Käfig, Weiblichkeit Schwäche. Zum Glück ist das für unsere Kinder anders.
Was, es geht auch um mich?
Dass es hier schnell persönlich wird und dass unsere Gedanken zur Geschlechtererziehung sehr viel mit unseren eigenen Erfahrungen zu tun haben, bestätigt mir auch Marcus Thieme, Mitarbeiter im Arbeitsbereich „Sexualerziehung und Gender“ am Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, den ich im Dunstkreis des Studiums kennenlernte: „Wenn wir überlegen, was richtig männlich und richtig weiblich ist, sind wir doch sofort bei der eigenen Identität als Mann oder Frau.“ Viele Vorstellungen dazu haben wir von unseren Eltern mitbekommen: „Wie sehr wir davon geprägt sind, bemerken wir oft erst in der Kindererziehung oder in der Partnerschaft“, so Thieme. Und dann reiben wir uns am Partner – und an den eigenen Idealen.
Mein Ideal ist die Geschlechtergerechtigkeit. Doch tief in mir fühle ich mich trotzdem als „Frau und Mutter“ verantwortlicher für das Emotionale und das Soziale als mein Mann. Das macht oft glücklich. Und ist gleichzeitig frustrierend, weil wenig anerkannt. Und oft schlecht bezahlt. Dabei haben auch wir Frauen die Care-Arbeit nicht in unseren Genen. Und sie ist längst keine Privatangelegenheit, sondern eine große gesellschaftliche Frage geworden. Verflixt, hier geht es um mehr als Äußerlichkeiten. Auch um mehr als Bagger und Puppen.
Wie kommen wir weiter?
Beim Plaudern mit Annika Arens, Sexualpädagogin bei pro familia Hamburg, kam noch ein guter Hinweis: „Häufig erkennen wir eher die geschlechtsstereotypen Verhaltensweisen von Kindern an als die, die nicht ins Erwartbare passen“, so die Expertin für sexuelle Bildung im Grundschulalter. „Eltern staunen immer, wenn ich sage: Damit kann ihr Kind nur die Hälfte seiner Fähigkeiten entwickeln.“ Stimmt. Meine jüngere Tochter etwa ist so energisch und körperlich, dass ich mich beim Gedanken ertappe: „Ganz schön ruppig für ein Mädchen.“ Würde ich über einen Jungen denken: Wow, ein Macher? Da sollte ich genauer hinsehen.
Und noch eine Frage, die ich mir gestellt habe: Haben es Jungs leichter, wenn es um die Geschlechtsrollen geht? Haben sie nicht! Im Gegenteil: Für sie ist der Grat noch schmaler: Denn während wilde Mädchen noch als burschikose Räubertöchter durchgehen, gibt es für Jungs, die ruhig und empfindsam sind, kaum Vorbilder.
Inzwischen bin ich diplomierte Sexualwissenschaftlerin, werkele an Buch und Beratung für Eltern (www.lieben-lernen.info) und befrage und erweitere als Mensch und Mutter mein Bewusstsein. Mein konkretes Ziel: Menschen und Verhaltensweisen möglichst wenig in Kategorien einordnen, nicht gut oder schlecht „für ein Mädchen“ oder „für einen Jungen“ denken. Das wird den Kindern nicht gerecht, sie sind 100 Prozent Mensch, nicht nur 50 Prozent Mädchen oder Junge.
Darum hier eine Botschaft an dich, meine liebe, aus dem Ultraschall herausgewachsene, jetzt schon 14-jährige Tochter: Nie wieder werde ich sagen: „Du wirfst deine Handball-Tore aber gut – für ein Mädchen.“ Denn das verniedlicht und relativiert. Nein, meine Tochter, du wirfst supergut. Punkt.
Deine Mutter
Kreuz und Queer: Begriffe für Weiblein, Männlein und alles dazwischen
- Queer, englisch „seltsam“, meint alle, die sich nicht in die zweigeschlechtliche Norm einordnen können bzw. wollen.
- Bei Cis-Menschen entspricht die gefühlte Identität dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht, bei trans Personen nicht.
- Bei intergeschlechtlichen Menschen ist die Biologie nicht eindeutig. Sie können sich seit 2018 als Divers ins Personenstandsregister eintragen lassen.
- Gender meint den kulturell und sozial gemachten Anteil an der Kategorie „Geschlecht“ und mündet in die Geschlechtsrollen.
- Die Sexuelle Identität bezeichnet, wie wir uns selbst hinsichtlich unseres Geschlechts und der sexuellen Orientierung definieren.
- Die sexuelle Orientierung beschreibt, wen man liebt und begehrt, z. B. homo-, hetero- oder bisexuell – Menschen des eigenen, des anderen oder mehrerer Geschlechter.
- Gendergerecht: Eigentlich spricht man ja von geschlechtergerechter Sprache – und inzwischen darüber hinaus von gendergerechter Sprache. Das Ziel dabei ist, dass wir Frauen, Männer und darüber hinaus alle Geschlechter im Sprachgebrauch gleichwertig behandeln. In der Erziehung bedeutet gendergerecht, dass wir unseren Kindern im Reden und Tun mitgeben, dass es Männer und Frauen gibt, klar – jedoch darüber hinaus Menschen, die sich in diesen Schubladen nicht wiederfinden, aus körperlich-biologischen Gründen, seelischen oder weil sie anders Lieben. Einfach mal sagen, dass es das gibt. Und dass jeder unseren Respekt verdient, egal wie männlich, weiblich oder divers sich die Person fühlt. Das Herz ist unserer Kinder ist groß genug.