Zwei Zahnbürsten, zwei Gitarren, zwei vollständige Garderoben – vieles hat meine Tochter Vera, 12, doppelt. Sogar etwas, das es laut Duden nur ein einziges Mal geben kann: ein Zuhause. Dabei gibt es in ihrem Leben ganze zwei davon, eins bei ihrem Vater, eins bei uns. Bedauerlicherweise aber lassen sich nicht alle Probleme, die eine Trennung nach sich zieht, so leicht austricksen wie die Grammatik. Geburtstage zum Beispiel gibt’s nur einmal im Jahr, da müssen dann Veras zwei Leben kurzzeitig fusionieren. Kein Problem für uns, das Geburtstagskind ist schließlich Königin. Aber Weihnachten? Sorry, das hieß bisher: pendeln.
Acht Jahre lang war für uns alle klar: Ein Jahr ist Vera bei Papa, ein Jahr bei Mama. Okay, irgendwann war unsere Abmachung ein bisschen in Richtung "Mama" gekippt, der Umstände halber. Schließlich war ich die mit Verwandtschaft in Deutschland, diejenige, die geheiratet und zwei weitere Kinder bekommen hatte, während die Familie von Veras Vater nicht mal auf unserem Kontinent lebt. Bis es im letzten Jahr immer wieder hieß: "Bitte, Mama, nur dieses eine Mal! Nur ein einziges Mal zusammen mit Papa feiern."
Kann das gut gehen?
Meine erster Gedanke: WEIHNACHTEN?! Das Fest der Familie schlechthin! Das, bei dem Vater, Mutter, Kinder mit Oma, Opa, Tanne, Kirchgang und Braten feiern. Der Ex? Hat da nichts verloren. Genau darum hatten wir uns doch getrennt: weil wir als Familie eine Hölle aus Streit und Zwietracht gewesen waren. Wenn wir ehrlich waren, funktionierten wir nicht mal als Elternpaar und nicht mal Jahre nach der Trennung so wahnsinnig gut. Es gab die schönen Momente, klar. Die, in denen wir uns nach einem überstandenen Kindergeburtstag oder spontanem Kaffee zu zweit auf den Balkon quetschten, eine rauchten und uns erzählten, wie es gerade so läuft. Im Job, mit der Liebe und dem Glück.
Da war aber auch all der Stress wegen verlorener Versichertenkarten, verpasster Termine, zerplatzter Absprachen; weil wir uns beide gern als Kindes-Anwalt sahen und überhaupt das mit der Erziehung besser draufhatten als der andere. Es wurde besser, jedes Jahr ein bisschen. Plus: Veras jüngere Geschwister waren ganz verrückt nach ihm. Aber reichte das aus, um gemeinsam Heiligabend zu verbringen? Das Fest der Liebe und Familie zusammen mit Mann und Ex-Freund?
Es dauerte ein bisschen, bis ich kapierte, dass es diese eine Familie, die ich hinter dem heiligen "Familienfest" verortete, für uns längst nicht mehr gab. Sie war zerfallen, hatte neue Teile dazubekommen, und am Ende hatte sich das Ganze zu einem ganz und gar nicht traditionellen Gebilde zusammengesetzt: Meine Eltern sind schon lange getrennt und neu verheiratet. Mein jetziger Mann hat einen erwachsenen Sohn aus seiner ersten Ehe mitgebracht, wir haben zwei gemeinsame Kinder. Veras Vater lebt zwar allein, aber nicht, ohne sich hin und wieder zu verlieben. Und dann gibt es ja auch noch Schwiegereltern, Geschwister, Tanten, Onkel, Cousins … Wann immer wir also die Zeit um Weihnachten planen, müssen ungefähr 300 Terminkalender, und schlimmer noch: Befindlichkeiten synchronisiert werden. Wer hat letztes Jahr und das Jahr davor wo und mit wem gefeiert? Wer muss dieses Jahr unbedingt dabei sein? Wer könnte sich ausgeschlossen fühlen, wenn wir ihn nicht besuchen? Diese Vorfeld-Orga ist schon als "normale" Familie oft schwierig genug. Für eine Patchwork-Familie mutiert sie gern zu einer Art Endgegner.
Das kriegen wir schon hin, irgendwie
Darin, uns nach den Bedürfnissen von anderen Erwachsenen zu richten und Kompromisse zu schließen, waren mein Mann und ich also bereits geübt. Wenn es unserer Elfjährigen also so wahnsinnig wichtig war, dass wir Weihnachten zusammen mit ihrem Papa verbrachten, dann würden wir auch das schon irgendwie schaffen, resümierten wir nach einigen abendlichen Gesprächen. Sie als Trennungskind war eh gebeutelt genug.
Veras Vater war mit allem einverstanden. Er hätte ohnehin bei Freunden gefeiert, da konnte er genauso gut zu uns kommen, fand er. Das machte die Sache natürlich einfach – hätte er eine Freundin oder weitere Kinder, wäre das vermutlich nicht so ohne Weiteres gegangen.
Aber was, wenn wir Streit bekämen? Am besten luden wir dazu noch ein paar Verwandte als Puffer ein, die könnten mögliche Konflikte dann gleich abfedern. So war zumindest unser Plan. Am Ende war es unser großes Glück, dass der nicht aufging, weil unsere Verwandtschaft sich der Logistik halber schon ohne uns organisiert hatte. Denn so kamen wir zum allerersten Mal in den bisher unvorstellbaren Genuss, ein Weihnachtsfest ganz und gar nach unseren eigenen Vorstellungen zu feiern. Und die Idee von „Familie“ noch mal neu zu denken.
Statt Kirche Kekse auf dem Sofa. War vorher jeder Schritt einer strengen Choreografie gefolgt, die nur je nach Familienflügel variierte, konnten wir plötzlich alles (alles!) selbst entscheiden. Und glücklicherweise lagen wir drei Erwachsenen inhaltlich so ziemlich auf einer Linie.
Weihnachten feiern, so wie wir es wollen
Keiner von uns glaubt ernstlich an Gott, also sparten wir uns den Kirchgang. Da hatten wir eh immer nur in der hinterletzten Ecke gesessen, in der man nichts vom Krippenspiel mitbekam und die Kinder alle 30 Sekunden fragten, wann es denn endlich vorbei sei. Stattdessen gab es "Mensch ärgere dich nicht" und Kekse auf dem Sofa.
Wir alle sehen Fleisch als ökologische Katastrophe, also kam ein vegetarischer Nussbraten nach einem noch nie probierten Rezept auf den Tisch. Mein Mann und ich hatten dafür gefühlt den halben Tag Nüsse hacken müssen, und am Ende schmeckte er auch nur so lala, aber hey, immerhin hatten wir mit ihm den Running Gag des Abends.
Nicht mal Haare kämmen und was Ordentliches anziehen mussten die Kinder, weil Oma und Opa das doch so gern sehen. Und so schlumpften wir am Ende alle in gemütlichen Outfits vor uns hin – war ja schließlich Feiertag!
Alles kann, nichts muss
Es gab keinen Fahrplan, es gab keinen Druck, es gab kein Müssen. Dafür aber am späten Nachmittag einen perfekt gespielten Weihnachtsmann, der im Gegensatz zu seiner dilettantischen Version vom Vorjahr nicht den Verdacht hinterließ, womöglich doch der Opa zu sein. Was für ein Glück, dass "Weihnachtsmann" rein zufällig ein Studentenjob von Veras Papa gewesen war und sein Kostüm all die Jahre im Keller überlebt hatte. Sogar unsere Tochter, mit der wir den Plan zusammen ausgeheckt hatten, wich kichernd, aber voll Ehrfurcht vor dem bärtigen Mann mit der tiefen Stimme zurück.
Zehn Minuten später stand der echte Papa in der Tür. "Du hast den Weihnachtsmann verpasst! Er hat einen riesigen Sack Geschenke dagelassen", jaulten die jüngeren Kinder aufgeregt. Die Sache mit den Geschenken hatten wir vorher extra mit ihm besprochen: bitte keine Konsum-Orgie; nur Kleinigkeiten für die Kinder, für uns Erwachsene gar nichts. Am Ende beschenkten wir uns dann natürlich trotzdem gegenseitig mit Büchern, Tee oder Schokolade – und waren alle berührt davon, wie sorgsam und passend diese Kleinigkeiten, die es eigentlich gar nicht hätte geben sollen, ausgesucht worden waren.
Als die Kinder niemanden auf der Welt mehr brauchten, weil sie endlich die Playmobil-Tierklinik aufbauen oder die Fortsetzung irgendeiner Fantasy-Trilogie weiterlesen konnten, verzogen wir drei Erwachsenen uns mit einer Flasche Wein in die Küche, um über Job, Liebe und Glück zu reden. Und am Ende schleppten die beiden Männer das Überraschungsgeschenk meines Mannes, eine tonnenschwere Steinskulptur, aus dem Auto in unsere Wohnung im ersten Stock.
Als die beiden keuchend oben angekommen waren und kurz überlegen mussten, wessen Rücken wohl mehr Schaden genommen hatte, musste ich mir tatsächlich ein Tränchen aus dem Augenwinkel wischen. So sehr fühlte ich mich gesegnet. Wir hatten nicht nur entgegen aller Befürchtungen den entspanntesten Heiligabend seit Langem miteinander verbracht. Ich fühlte nach all den Streits der vergangenen Jahre auch wieder so etwas wie Verbundenheit mit Veras Vater – dem Menschen immerhin, mit dem ich diese abgefahrene Nummer namens Elternschaft zum allerersten Mal ausprobiert habe. Das hier war tatsächlich ein Fest der Liebe geworden. Viel mehr als jedes klassische "Das haben wir schon immer so gemacht" je hätte werden können.
Es gibt immer mehr Andersmacher
Und das Ganze hatte auch noch ein schönes Nachspiel: Seit wir es uns letztes Jahr rausgenommen haben, Weihnachten abseits der Norm zu feiern, höre ich immer mehr Geschichten von Bekannten, die es auch anders machen. Weil sie sich dem Stress mit ihren Herkunftsfamilien nicht aussetzen möchten, weil sie Gemeinschaft leben oder ganz einfach Neues ausprobieren wollen. Da ist M., in deren Küche an Heiligabend nicht nur ihr Kind, sondern auch alle Bekannten willkommen sind, die allein sind oder denen einfach gerade nichts Besseres einfällt.
Da sind die beiden Familien, die sich über Weihnachten ein Ferienhaus auf dem Land mieten, den ganzen Tag Glühwein schlürfen und die Kinder als Bande durch die Gegend ziehen lassen.
Oder J., in deren Flickenteppich sich sieben Kinder und acht Elternteile miteinander verweben. Klar, dass die alle zusammen feiern.
Dass mir all diese Geschichten neuerdings so ins Ohr stechen, liegt vermutlich nicht mal daran, dass sie sich innerhalb von einem halben Jahr explosionsartig vermehrt haben. Sondern dass ich aufmerksamer für sie geworden bin. Immer wieder erinnern sie mich daran, unsere eigene Definition von Familie zu leben. Eine, in der es vielleicht sogar Raum für eigene Rituale gibt. Aber natürlich nur solche, die zu uns passen.
Dieses Jahr wollen wir übrigens genauso feiern wie letztes. Nur eine Tanne soll es auf ausdrücklichen Kinderwunsch hin aus klimaschutztechnischen Gründen nicht geben ("Wofür sonst haben wir diese riesige Palme im Wohnzimmer stehen?"). Ach so, und über den Nussbraten müssen wir auch dringend noch mal reden.