Artikelinhalt
- Was haben wir weltweit gemeinsam?
- Wo, bitte, geht's zum Elternparadies?
- Sind wir in Deutschland besser dran, als wir denken?
- Ist das Gras auf der anderen Seite immer grüner?
- Lässt uns die Digitalisierung näher zusammenrücken, oder trennt sie uns?
- Hat Corona das Elternsein noch schwieriger gemacht?
- Lasst uns etwas ändern!
- Zwischen den Welten
Manchmal gibt es Begegnungen, da macht es sofort Klick zwischen zwei Menschen, auch wenn sie auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben. Ich denke an Situationen wie diese: eine Reise nach Südostasien vor ein paar Jahren, ein Stand mit Kleidern, dahinter eine Verkäuferin mit sichtbarem Babybauch. Sofort waren sie und ich mittendrin im Müttertalk, von der Frage nach ihrem Stichtag bis zu Geschwistereifersucht, trotz holprigem Englisch auf beiden Seiten. In Spanien steckte mir einmal eine Kellnerin einen Kanten hartes Brot zum Draufbeißen für meinen zahnenden, jammernden Sohn zu, mit so einem Blick: Kenn ich, ist eine schwierige Phase. Und ein Kollege erzählte, wie er im Zug von Hamburg nach Hannover einen Papa aus Afghanistan traf, der ihn auf seine Tochter im Tragetuch ansprach: Ist ja verrückt, bei euch in Deutschland tragen auch Väter ihre Babys vorm Bauch?
Ob real oder auch digital, Elternsein sorgt immer für Anknüpfungspunkte. Weltweit. Und so unterschiedlich Haltungen, Gewohnheiten und Kulturen sein mögen, verbindet es uns auf einer tiefen Ebene. Ab dem Moment, in dem wir unser erstes Baby auf dem Arm halten, vielleicht sogar schon, wenn wir den positiven Test in der Hand haben, sind wir Teil einer globalen Krabbelgruppe. Wir teilen dieselbe Verantwortung, ähnliche Hoffnungen, ähnliche Ängste.
Doch wie genau sieht Elternleben weltweit aus im Jahr 2021? Was verbindet, was trennt, was inspiriert uns, je nachdem, ob wir unsere Kinder in Schweden, Saudi-Arabien oder Spanien großziehen? Das wollte ein Forscherteam des Marktforschungsinstituts Kantar genauer wissen. Im Auftrag des Lebensmittelkonzerns Nestlé interviewte es 9000 Baby-Eltern in 16 sehr unterschiedlichen Ländern – von Indien bis Rumänien, von den Philippinen bis nach Polen. Der globale "Parenting Index" (Grafik als PDF) ist wohl die erste Erhebung überhaupt, die sich so umfassend und aktuell mit diesen Fragen beschäftigt. Und die Ergebnisse sind bemerkenswert:

Die Antworten auf drei zentrale Fragen der Untersuchung bilden die Punktzahl des jeweiligen Landes auf einer Skala zwischen 0 und 100. Die drei Fragen lauten:
• Würden Sie, alles in allem, zustimmen, dass es heute einfach ist, Eltern zu sein?
• Elternschaft heute ist voller Herausforderungen, die ich nicht kontrollieren kann. Stimmen Sie zu?
• Im Großen und Ganzen fühle ich mich in meiner Rolle als Elternteil unterstützt. Stimmen Sie zu?
In den Ländern mit den höchsten Indexwerten sehen sich Eltern mit weniger Herausforderungen konfrontiert und fühlen sich mehr unterstützt als in Ländern mit niedrigen Werten. Insgesamt beeinflussen elf Faktoren das Ranking: Acht davon basieren auf den Umfragedaten, drei auf globalen sozialökonomischen Daten.
Was haben wir weltweit gemeinsam?
Glück, Druck und Stress. Eine knappe Mehrheit der Befragten, nämlich 51 Prozent, sagt: "Elternsein ist insgesamt anspruchsvoller und herausfordernder, als wir es uns vorgestellt haben" – und das gilt nicht nur für Mütter und Väter beim ersten Kind, sondern genauso fürs zweite oder dritte. Und es gibt noch weitere Faktoren, die das Elternsein zum gemeinsamen, globalen Hindernislauf machen, sagt Nestlé-Studienleiterin Birgit Becker: "Drei Dinge sind es, die Eltern überall auf der Welt das meiste Kopfzerbrechen bereiten: innerer und äußerer Druck, ihre finanzielle Situation und die Frage nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie."

Letzteres, sagt Becker, hängt auch damit zusammen, dass sich weltweit Geschlechterrollen ändern, wenn auch in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß. Mütter wollen Teil der Arbeitswelt sein, Väter sich mehr einbringen, gemeinsame Elternschaft ist erklärtes Ziel der meisten. Auch wenn die gute Absicht auf den zweiten Blick ihre Tücken hat, sagt Becker: "Väter finden es heute selbstverständlich, für ihre Babys da zu sein. Aber sieht man genauer hin, picken sie sich eher die angenehmen Seiten des Elternseins heraus: Sie schmusen und spielen mit ihren Kindern, bringen sie ins Bett, wechseln auch einmal eine Windel, aber Haushaltsarbeit und Alltagsorganisation bleiben doch größtenteils Muttersache."
Das mag mit ein Grund dafür sein, dass etwa jede vierte Mutter weltweit über Gefühle von Einsamkeit und trüber Stimmung klagt, gerade in den ersten vier Monaten. Und längst nicht nur solche, die tatsächlich an einer Form von echter Depression leiden. Becker bezeichnet das als "Loneliness-Paradox": Ich wollte doch so sehr ein Baby, warum bin ich jetzt nicht richtig glücklich? Noch ein universeller Befund: Genauso wie Rollenbilder ändern sich Familienformen, wenn auch in unterschiedlichem Tempo. Neben der klassischen Kleinfamilie wächst beispielsweise die Zahl der Ein-Eltern- und Regenbogenfamilien.
Wo, bitte, geht's zum Elternparadies?
Um die sechzehn ausgewählten Länder besser vergleichen zu können, hat das Forschungsteam ein Punktesystem entwickelt, das elf Bereiche umfasst. Zum Großteil geht es um subjektive Einschätzungen der Gesprächspartner, also etwa: "Wie viel Unterstützung bietet mir mein Umfeld?", "Wie partnerschaftlich teilen wir uns das Elternsein?" oder auch "Wie pflegeleicht ist mein Baby?"; andere Faktoren sind objektiv messbar, etwa die Frage nach dem allgemeinen Wohlstandsniveau im Land und bezahltem Mutterschutz.
And the world wide winner is ... Schweden! Mit 75 Punkten in der Gesamtwertung liegt Ikealand weit vorn, danach kommt lange nichts, der Zweitplatzierte Chile hat 58 Punkte, Deutschland kommt mit 56 auf Bronze, das Schlusslicht bildet China mit 39.

Dass die Skandinavier ihrem Ruf als besonders familienfreundlich gerecht werden, überrascht Birgit Becker nicht: "Nirgends ist Eltern- sein so relaxt wie dort. Der schwedische Staat zahlt für 16 Monate den Elternurlaub, Väter und Mütter sind gleichermaßen involviert." Interessant wird’s auf den zweiten Blick: Ausgerechnet beim Stichwort "Selbstvertrauen" landen schwedische Eltern auf dem vorletzten Platz. Nicht so widersprüchlich, wie es klingt: "Sie leben gefühlt in der besten aller Welten – da wiegt es umso schwerer, falls etwas nicht so läuft wie erhofft, wenn das Familienleben anstrengender ist als erwartet. Dann denken sie eher: An der Unterstützung von außen und den Verhältnissen kann es nicht liegen, also mache ich etwas falsch." Den höchsten Grad an Selbstbewusstsein haben dagegen Mütter und Väter in Rumänien und Saudi- Arabien – Länder, in denen Elternwerden mehr Selbstverständlichkeit ist als akribisch geplante Entscheidung, und in denen Mütter und Väter schlicht weniger von sich und ihren Kindern erwarten und deshalb leichter zufriedenzustellen sind, glaubt Becker.
Sind wir in Deutschland besser dran, als wir denken?
Wir schielen gerne sehnsüchtig dorthin, wo es Eltern vermeintlich leichter haben: nicht nur nach Skandinavien, auch nach Spanien, wo Samstag spätabends, jedenfalls in Nicht-Corona-Zeiten, die Kleinkinder laut über den Dorfplatz flitzen, ohne dass einer meckert. Diese südländische Lässigkeit hätten wir gern. Aber objektiv sind wir an vielen Stellen ziemlich weit vorn: mit einem ordentlichen Netz staatlich mitfinanzierter Kinderbetreuung, Krippenplatzgarantie, Elterngeld und dem Recht auf Rückkehr an den Arbeitsplatz. Der "Parenting Index" zeigt auch: Unsere eigene Wahrnehmung beruht nicht nur auf messbaren Fakten.
Das wird deutlich bei dem Punkt "Unterstützung für arbeitende Eltern". Während deutsche Eltern noch ordentlich Luft nach oben sehen, sagen US-amerikanische Mütter und Väter: könnte besser sein, ist aber schon okay so – obwohl das 330-Millionen-Land so gut wie kein soziales Netz besitzt und es fast nur im Ermessen der Arbeitgeber liegt, ob sie bezahlten Mutterschutz gewähren. "Eine Frage der eigenen Erwartungshaltung", sagt Birgit Becker. "In den USA ist es eher verpönt, vom Staat Lösungen für vermeintlich private Probleme zu erwarten."
An anderer Stelle zeigt sich sogar noch deutlicher, wie stark die eigene Erwartung die Wahrnehmung beeinflusst. Im Vergleich zu schwedischen Eltern empfinden chinesische ihre Babys fünfmal häufiger als besonders schwierig. Wohl kaum reine Temperamentsfrage. "Das könnte ein Erbe der langjährigen Ein-Kind-Politik in China sein", glaubt Birgit Becker. "Wenn alle Hoffnungen auf einem ersehnten Wunschbaby ruhen, dann ist es umso wahrscheinlicher, dass Eltern hinterher enttäuscht sind und an sich oder ihrem Kind zweifeln." So ganz unbekannt klingt das aber auch für deutsche Ohren nicht.
Ist das Gras auf der anderen Seite immer grüner?
Als in den 80er-Jahren die ersten Eltern zwischen Freiburg und Flensburg ihre Babys in Tragetücher hüllten, nahmen sie sich das Familienleben in Afrika oder im Amazonasgebiet zum Vorbild, jedenfalls in seiner idealisierten Form: ganz viel Nähe und Natürlichkeit, das wünschten sie sich für ihre Kinder. Ist ja auch nicht verkehrt, im Gegenteil. Und das Sprichwort "Es braucht ein Dorf, um ein Kind großzuziehen" wird gern dann zitiert, wenn wir als Mitteleuropäer sagen wollen: Mehr Gemeinschaft wäre schöner, als dass jede Kleinfamilie in ihrem eigenen Sandkasten herumpuzzelt.

Allerdings: Auf den Philippinen, auf denen junge Eltern tatsächlich meist im Großfamilienverband leben, und in Nigeria, wo das afrikanische Bonmot vermutlich seinen Ursprung hat, erzählten die Eltern den Interviewern der Studie etwas anderes. Etwa so: "Ja, es ist schön, dass sich alle zusammen um die Kinder kümmern, aber dafür müssen wir uns auch ständig Erziehungstipps anhören, vor allem von den älteren Menschen, Onkel und Tanten. Auch wenn es noch so nervt.“ Ein zutiefst menschliches Verhalten: Man sehnt sich eben immer am meisten nach dem, was man nicht hat – die einen nach mehr Gemeinschaft, die anderen nach mehr Privatsphäre und weniger Übergriffigkeit, auch in verschiedenen Communities in Deutschland. Und apropos Natürlichkeit: Während in Deutschland immer wieder die hohe Rate von einem Drittel Kaiserschnittgeburten beklagt wird, sind es gerade in Schwellenländern wie Brasilien und China in manchen Regionen doppelt so viele – weil dieser Eingriff als moderner, sicherer und deshalb erstrebenswerter gilt als eine natürliche Geburt.
Lässt uns die Digitalisierung näher zusammenrücken, oder trennt sie uns?
Sowohl als auch, sagt Birgit Becker: "Der größte Unterschied zwischen Elternsein in diesem und im vergangenen Jahrhundert ist, dass wir heute global alle miteinander vernetzt sind. Das Internet ist die wichtigste Quelle für Informationen rund ums Baby, eine Möglichkeit, sich auszutauschen und oft auch ein Aha-Erlebnis: Wir bekommen mehr davon mit, wie Eltern weltweit zu bestimmten Fragen stehen und Herausforderungen lösen, und das weckt auch Ansprüche, etwa nach mehr Geschlechtergerechtigkeit oder Vereinbarkeit." Die Kehrseite: "Vor allem Mütter berichten, dass sie unter teilweise aggressiven Kommentaren leiden, denen sie auf Social Media ausgesetzt sind. Leider ist ‚Mum-Shaming‘ ein weltweites Problem" – außer, wer hätte es geahnt, in Schweden ...
Hat Corona das Elternsein noch schwieriger gemacht?
Nein, jedenfalls nicht den Befunden des "Parenting Index" zufolge. Das konnten die Forschenden sogar ziemlich genau feststellen, weil der Hauptteil ihrer Arbeit mit dem Beginn der globalen Pandemie Anfang 2020 beendet war, und sie in mehreren Ländern später noch einmal nachhaken konnten. Die Ergebnisse stimmen hoffnungsfroh: Eltern berichteten von gewachsener gegenseitiger Unterstützung und mehr Anerkennung für das, was sie leisten. Während vieles spaltet, könnten wir als Eltern uns als globale Gemeinschaft verstehen. Die globale Krabbelgruppe wird freundlicher. Schön, wenn wir ein Teil davon sind ...
Lasst uns etwas ändern!
Was können wir als Eltern in Deutschland von den Ergebnissen lernen, wo ist die Öffentlichkeit gefragt, wo wir selbst? Verena Carl sieht vier Stellschrauben für mehr Zufriedenheit:
WAS DIE POLITIK TUN KANN
Im vierten Quartal 2020 hat sich etwa ein Drittel aller Elternpaare, die dazu berechtigt sind, für Elterngeld Plus inklusive Partnerschaftsbonus entschieden – wird länger gezahlt als Basis-Elterngeld und unterstützt vor allem Paare, die sich Geldverdienen und Care-Arbeit möglichst gleichberechtigt teilen wollen. Gut so! Denn auch im internationalen Vergleich sind Paare, die sich die Arbeit so teilen, am zufriedensten mit ihrem Leben. Jetzt hätten wir noch gern eine Änderung im Steuerrecht: endlich das antiquierte Ehegattensplitting zugunsten eines Familiensplitting aufheben – das hilft auch Alleinerziehenden! An anderer Stelle bringen oft kleine Veränderungen viel. Wie wär’s zum Beispiel, wenn es im Restaurant auch auf den Männertoiletten Wickeltische gäbe?
WAS DIE ARBEITGEBER TUN KÖNNEN
Nicht nur Familienfreundlichkeit ins Firmenleitbild schreiben, sondern einen größeren Schritt im Kopf machen. Endlich Vereinbarkeitsfragen nicht mehr als "Nice to have" oder reines Mütterproblem begreifen, sondern verstehen: Wer trotz Fachkräftemangel attraktiv bleiben will für Jobsuchende, muss glaubhaft machen, dass er die Bedürfnisse von Müttern wie Vätern ernst nimmt, mit flexiblen Arbeitszeit- und Homeoffice-Möglichkeiten (haben wir ja gemerkt, dass es geht!), Teilzeitarrangements, geteilter Führungsverantwortung.

WAS DIE ÖFFENTLICHKEIT TUN KANN
Ja, das sind wir alle, auf Social Media, in der Nachbarschaft, in der Familie – weg vom Shaming, hin zum Caring. Niemanden diskriminieren, weil er oder sie anders lebt als man selbst, weil Mütter länger stillen (oder gar nicht), Väter früher oder später wieder arbeiten gehen, Eltern zu viele oder zu wenige Kinder bekommen, sich zwei Frauen lieben, eine junge Mutter einen älteren Vater oder eine ältere Mutter einen jüngeren Vater, und, und, und ... Motto: Facebook und Co vom Kampfplatz zu einem geschützten Raum für Eltern machen!
WAS WIR FÜR UNS TUN KÖNNEN
Den inneren Kritiker genauer anschauen, ausreden lassen und in die Schranken weisen. Wir alle sind von Glaubenssätzen geprägt, die uns sagen, was eine gute Mutter oder ein guter Vater ist, und besonders viel Stress produzieren die, die wir uns nicht bewusst machen. Weil wir zum Beispiel nach einem Krippenplatz für unser Anderthalbjähriges suchen, während tief in uns ein kleiner Nörgler sitzt, der findet: Ein Kleinkind gehört zur Mutter, deine beruflichen Pläne sind purer Egoismus! Oder umgekehrt: Wir möchten eigentlich länger mit dem Kind zu Hause sein, aber im eigenen Hinterkopf tobt ein feministischer Shitstorm. Was dagegen hilft? Fragen, woher die Stimme kommt, Argumente für die eigene Position sammeln, Rückhalt von Partner oder Partnerin. Und sich immer klar machen, dass kein Kind perfekte Eltern braucht, um gesund und glücklich zu sein.
Zwischen den Welten
Auch hierzulande sind junge Eltern von der unterschiedlichen Herkunft ihrer Familien geprägt, jede und jeder vierte Deutsche hat einen Migrationshintergrund. Die Psychologin Saadet Yetiskin, 39, ist in einer kurdisch-alevitischen Familie in Deutschland aufgewachsen, leitet interkulturelle Workshops und sagt: Offenheit bringt uns weiter!

ELTERN: Elternsein ist Glück und Herausforderung zugleich, aber was als hilfreich und was als schwierig empfunden wird, ist unterschiedlich. Wie wirkt es sich aus, wenn Familien von mehr als nur einer Kultur geprägt sind?
Saadeet Yetiskin: In vielerlei Hinsicht. Schon als Kind habe ich zum Beispiel gespürt, dass meine monokulturell deutschen Schulfreundinnen und ihre Familien andere Vorstellungen von Nähe und Distanz hatten als die, die ich aus meinem kurdisch-alevitischen Elternhaus kannte. Verabredungen mit Klassenkameradinnen waren klar abgezirkelt – wann kommst du, wann gehst du, bleibst du zum Essen oder nicht. In meiner Familie galt: Solange du bei uns zu Besuch bist, gehörst du dazu und bist ein Teil der Familie, und du bleibst so lange, wie du willst.
Es ist also nicht nur ein Klischee, dass Gemeinschaftssinn in manchen Herkunftskulturen einen besonders hohen Stellenwert hat?
Da ist schon was dran. Der verstorbene US-amerikanische Psychologieprofessor Harry Triandis unterscheidet zwei Gesellschaftsformen: In der individualistischen stehen die Würde des Einzelnen und seine Rechte im Vordergrund, in der kollektivistischen die Ehre, die Gemeinschaft und die Verantwortung. Aber das lässt sich nicht eins zu eins einem bestimmten Herkunftsland oder einer Religion zuordnen, das hat viele Dimensionen. Auch der Bildungsgrad spielt eine Rolle, und das politische System.
Können Sie ein Beispiel geben?
Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hat gezeigt, dass Mütter mit einem familiären Hintergrund im früheren Jugoslawien oftmals selbstbewusster und emanzipierter sind als solche, deren Herkunftsfamilien aus der Türkei stammen – mehrere Jahrzehnte Sozialismus haben ihr Wertesystem anders geprägt, auch wenn sie der gleichen Religion angehören. Dann wiederum gibt es sogenannte "Brückennarrative", also Ähnlichkeiten über ganz verschiedene Kulturkreise hin- weg. Konservative islamische Familien haben zum Beispiel eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit streng katholischen – etwa Moralvorstellungen, die Wichtigkeit von Traditionen, die Hierarchie.
Sowohl die eher individuelle als auch die eher gemeinschaftsorientierte Haltung haben ja ihre Vorteile. Gerade junge Mütter mit deutschen Wurzeln fühlen sich häufig in der Anfangszeit einsam und hätten ganz gern eine fürsorgliche Großfamilie um sich ...
... und umgekehrt müssen sich Mütter in Familien mit beispielsweise türkischen Wurzeln manchmal gegen traditionelle Vorstellungen abgrenzen, empfinden ihre Schwiegermütter als übergriffig und wünschen sich mehr Privatsphäre. Vor allem, wenn sie von zwei Kulturen geprägt sind und zwischen den Welten leben.
Ist das auch ein Problem, wenn Paare Eltern werden, bei denen einer einen Migrationshintergrund hat und der andere nicht?
Kann, muss nicht – die Frage ist, welche Werte die beiden teilen. Wenn sie sich in der Moschee kennengelernt haben, er Syrer, sie konvertierte Deutsche, dann werden beide auch ähnliche Vorstellungen vom Familienleben haben. Aber wenn sich zwei vor allem verliebt haben, weil sie sich so attraktiv fanden, dann ist das eine Herausforderung. Da hilft nur, eigene Glaubenssätze zu überprüfen, empathisch zu sein, gut zu kommunizieren.
Privat habe ich den Eindruck, von der Krabbelgruppe über Kita bis Schule: Eltern mit unterschiedlichem ethnischem Background leben eher so nebeneinander her. Haben Sie eine Idee, wie man das ändern könnte?
Einerseits menschlich – auf einer Party fangen Sie auch eher mit denen ein Gespräch an, mit denen Sie Gemeinsamkeiten vermuten. Aber aus meiner eigenen Perspektive kann ich auch sagen: Auf den Seiten der Migrantenfamilien gibt es oft eine gewisse Müdigkeit, weil sie es leid sind, sich immer wieder erklären zu müssen, sich immer in der Bringschuld zu fühlen, manchmal auch offenen Rassismus zu erleben. Das Schöne ist: Die Kinder selbst haben noch gar nicht dieses Verständnis von "wir" oder "ihr", denken noch nicht in solchen Kategorien. Eigentlich eine tolle Chance, ins Gespräch zu kommen!
