Ich schrecke mit Herzrasen hoch. Ein schneller Blick auf den Wecker sagt mir, es ist 23 Uhr 56. Ich war fast eingeschlafen, da durchfuhr mich im Halbschlaf ein schrecklicher Gedanke: Hab ich heute vergessen, ein Kind von der Schule abzuholen? Sollte ich heute nicht die Freundin meiner Tochter mit nach Hause nehmen? Im Halbschlaf greife ich mit zitternder Hand nach meinem Handy und suche die Whattsapp-Nachricht der Mutter von gestern. Da steht Mittwoch, also morgen.
Ich lege das Telefon zur Seite und falle erleichtert zurück ins Kissen. Ich bin immer noch durcheinander – vor Schreck, aber auch, weil der Gedanke so unlogisch war. Spätestens heut Abend wäre der anderen Mutter doch aufgefallen, dass ihre Tochter nicht abgeholt wurde. Wohl kaum würde das Kind bis spät nachts vor der Schule warten und die Mutter zu Hause Däumchen drehen. Ich brauche ziemlich lange, bis ich wieder zur Ruhe komme, drehe mich unter der Decke hin und her und mein Kopf rattert weiter die To-Do-Liste für morgen durch. Bloß an alles denken, damit nichts Schreckliches passiert …
Die Panik vorm Vergessen
Ich habe noch nie ein Kind irgendwo vergessen. Ja, zu spät bin ich hin und wieder gewesen, aber ich war immer da. Trotzdem treffen mich solche beunruhigenden Gedankenblitze oft. Als meine Kinder noch im Kinderwagen durch die Gegend kutschiert wurden und ich dauerübermüdet war, zuckte ich manchmal zusammen, weil ich kurz dachte oder träumte, ich hätte den Kinderwagen samt Baby am Morgen in der Drogerie stehen oder das Kind in seiner Babyschale im Auto sitzen lassen.
Mein Leben ohne Kinder war bisher schließlich sehr viel länger als das mit Kind gewesen. Auf einmal musste ich da etwas ständig mit mir mitnehmen. Und meine Regenschirme und Sonnenbrillen ließ ich ja auch nicht selten irgendwo liegen. Anscheinend traute mein innerer Kritiker mir zu, dass ich dieselbe Unachtsamkeit mit meinen eigenen Kindern an den Tag legen könnte.
Unvorbereitet sein? Ein Horror!
Die heutigen quälenden Schrecksekunden beziehen sich allerdings nicht nur auf die Kinder. Ich werde auch von jetzt auf gleich panisch, weil ich zum Beispiel urplötzlich denke, einen wichtigen Geburtstag oder einen Abgabetermin für meinen Job vergessen zu haben. Weil ich glaube, mir ist ein Arzttermin durchgerutscht oder ich hätte Freunde eingeladen und es versäumt einzukaufen.
In meinen Träumen geht es so weit, dass mich jemand kurz vor Abflug an eine geplante Reise erinnert und ich in nur drei Minuten meinen Koffer packen muss und dabei die Hälfte vergesse. Ich muss also völlig unvorbereitet zum Flughafen fahren. Ein schreckliches Gefühl für jemanden, der gerne organisiert und hingebungsvoll Reisen vorbereitet. Aus solchen Träumen erwache ich völlig geschafft und mit Herzrasen.
Es gibt so viel zu vergessen
Das meiste davon ist mir noch nie passiert. Doch woher kommen diese Ängste? Ist es ein Kontrollzwang, der mir vorgaukelt, ich hätte nichts mehr im Griff, wenn ich lockerlasse? Sind es Verlustängste? Zwangsvorstellungen? Oder ist es einfach der Ausdruck eines reinen „Erschlagenseins“ von all den Dingen, an die ich tagtäglich denken muss und die ich auf keinen Fall vergessen darf, weil sonst das Unglück über uns hereinbrechen könnte.
Nicht vergessen, dass die Kinder ihre Schwimmsachen, ihren Turnbeutel, ihren Mund-Nasen-Schutz oder ihre Brotdose mit zur Schule nehmen müssen. Bloß nicht vergessen, dass noch ein Kuchen für das Schul-Buffet gezaubert, ein Geschenk für den Geburtstag am Samstag gekauft oder die Anmeldung für die neue Schule ausgefüllt und abgegeben werden muss. Diese Liste ließe sich ewig fortführen. Sie endet nie. Denn wenn zwei To-Dos abgehakt sind, kommen mindestens drei neue dazu. Und das ist einfach zu viel. Es ist, als würde mein Hirn überquellen.
Listen ohne Ende
Um meine Angst loszuwerden, habe ich begonnen, alles Wichtige aufzuschreiben. Ich tippe mittlerweile nicht nur jeden Termin und jede Aufgabe in meinen Handy-Kalender, ich habe auch – total old-school – einen Tischkalender, in den ich handschriftlich nochmal alles eintrage. Ich verlasse mich nicht so gern nur auf die Technik. On top liebe ich es, kleine Erinnerungs-Zettelchen zu schreiben, die mittlerweile allerdings überall im Haus umherfliegen. Genauso wie meine unzähligen Einkaufszettel, obwohl ich eine stets aktuelle Liste auf meinem Handy habe.
Kann man bei diesem System in ständiger Angst leben, etwas vergessen zu haben? Ich schon. Denn ich bilde mir dann ein, ich hätte vergessen, auf den Kalender oder die Listen zu schauen. Hier könnte eventuell eine übergroße Wochenplaner-Tafel mitten in der Küche helfen. So wie ihn Mama Elsa in der Netflix-Serie „Atypical“ (übrigens eine Empfehlung) besitzt. Die hat ihren Laden, auch Dank der nicht zu übersehenden Tafel, ganz gut im Griff.
Sollte das auch nicht helfen, muss ich mich wohl oder übel an kurzzeitig erhöhten Puls und nächtliche Schreckattacken gewöhnen. Es sei denn jemand kommt noch mit einem guten Tipp um die Ecke, damit ich nicht vergesse, dass ich eigentlich nichts vergessen habe ...
Bereits erschienene Kolumnen von Lea Kästner:
- Kolumne: Wäscheberg oder Waschbrettbauch
- Die große Panikmache: Wie mich andere Mütter in den Wahnsinn treiben
- Urlaub mit Kindern: Hilfe, ich muss packen
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- Nachher, später, nie? Wie ich ständig meine Kinder vertröste
- Kinderkriegen vs. Hund anschaffen: Das letzte Kind hat Fell
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