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Corona-Tagebuch einer Mutter Mit Teenie im Lockdown: Ein schmerzhaft ehrlicher Brief an mein Mädchen

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© Gruner + Jahr
Unsere Autorin beschult drei Kinder im Homeschooling und kümmert sich nebenbei um Haushalt und Baby. Nein, das geht nicht immer gut. Besonders bei der Ältesten merkt sie deutlich: Der Lockdown ist für Kinder keine artgerechte Haltung.

„Ach ja, und DU weißt es also mal wieder besser, oder was?“ Deine Stimme überschlägt sich, Wuttränen quellen aus deinen funkelnden Augen, du knallst drei Türen auf deinem Weg ins Zimmer und drehst den Lautstärkeregler auf Anschlag. Es schallen mal wieder die Songs mit all den frauenfeindliche Obszönitäten durchs Haus, die ich dir verboten hatte. Ich hoffe, dass der Siebenjährige und die Neunjährige die Worte wenigstens nicht alle verstehen, denn gerade kann ich nichts gegen dich ausrichten, so viel habe ich seit März gelernt. Mit geschlossenen Augen drücke ich das Baby an mich und entschuldige mich wortlos für diesen nächsten unnötigen Streit, den es miterleben musste. Weil du gerade die Welt hasst. Und weil ich gerade nicht die Nerven hatte, darauf pädagogisch wertvoll und verständnisvoll zu reagieren. 
 

Schiffbruch mit Tiger

Erinnerst du dich an den Film „Life of Pi“, in dem ein junger Mann mit einem Tiger einen Schiffbruch überlebt? Die beiden schleichen Tag für Tag in ihren beiden Rettungsbooten umeinander her, wohlwissend, dass ein Angriff für beide übel enden könnte. Sie sind hungrig, ausgelaugt, gestresst und hätten beide das Potential, sich zu vernichten. Die Geschichte ist so faszinierend, weil da definitiv auch eine Art Vertrautheit und Liebe mitten in all dieser Bedrohlichkeit stattfindet und die beiden sich am Ende trotz allem beim Überleben helfen...  Letztens ist mir aufgefallen, wie gut „Life of Pi“ den Lockdown mit dir beschreibt: Wie sehr würden mir unsere tiefen Gespräche, die vertrauten Insiderwitze, deine wertvolle Hilfe und dein Lachen fehlen, wenn du nicht hier wärst... aber gleichzeitig weiß ich: Du bist hungrig nach dem Leben da draußen, ausgelaugt, gestresst und hast das Potential, meine paar übriggebliebenen Nerven aber sowas von zu vernichten.
 

Nicht artgerechte Haltung

Ich weiß, das hier sollte nicht dein Leben sein. Du solltest dich nicht an mich wenden müssen, wenn du Mathe nicht verstehst. Du solltest dich nicht mit deinem siebenjährigen Bruder um den Radiergummi kloppen müssen, sondern besser mit irgendeinem supersüßen Typen mit scheußlicher Teenie-Frise, der dir dann abends schreibt, dass er dein Quietschen irgendwie süß fand und dich mal nach der Schule treffen will. Du solltest heimlich deinen ersten kleinen Feigling kippen und meinetwegen auch eine Zigarette paffen. EINE! Wir sollten uns streiten, denn das gehört dazu, aber dann sollten wir auch wieder eine Pause voneinander haben dürfen, um wieder fröhlich miteinander sein zu können oder wenigstens frisch und stark in den nächsten Kampf zu ziehen. So gehört sich das. So war ich jung. Und es bricht mir das Herz, dass ich dir das verbieten muss und nicht bieten kann. Es geht um Größeres als uns.
 

Verkehrte Welt

In ein paar Wochen wirst du wieder in die Schule gehen. Mit Maske und Abstand zu allen, die du gerade so vermisst. Das ist, als würde man einem Verhungernden einen halben Salatteller ohne Dressing vorsetzen... Das Schlimmste daran aber ist, dass wir als Familie und vor allem Oma und Opa darauf angewiesen sind, dass du dich trotzdem mit diesem halben Salatteller zufrieden gibst. Dass du dich nicht heimlich mit irgendeinem Typen triffst, dass du deinen Freunden nicht um den Hals fällst an der Bushaltestelle und dass du deine Klassenkameraden total uncool daran erinnerst, dass sie anderthalb Meter Abstand zu dir halten sollen. Kontrollieren können wir das nicht, es liegt einfach in deiner Hand und ich glaube, das ist die größte Crux in all dem hier. WIR sollten DICH beschützen! Nicht du uns. WIR sollten die Stimme der Vernunft sein müssen, die dir ein bisschen fehlt mit 15. Und du? Du solltest Grenzen austesten dürfen und uns, deine Eltern, in manchen Themen auf Abstand halten, aber ganz bestimmt nicht deine Freunde. Du solltest langsam die große Freiheit entdecken anstatt alleine in deinem Zimmer zu sitzen.
 

Es tut mir leid

Ja, du gehst mir oft gehörig auf den Senkel im Moment. Aber es ist mir wichtig, dass du weißt: Ich verstehe dich. Ich verstehe dich besser als du denkst. Wir alle tragen noch immer jedes Alter in uns und ich weiß noch, wie wichtig deines für mich war. Aber lass uns versuchen, das Beste aus dem zu machen, was wir haben und lass uns bitte nicht die Nerven verlieren (ja, das ist auch eine Notiz an mich!). Wir haben das Potential, vernichtend zu sein. Aber wir können es wie Pi und der Tiger machen: Die haben dieses Potential trotz aller Misere nicht ausgeschöpft und sich letzten Endes geholfen, den Mist gut zu überleben. Ich weiß, das schaffen wir zwei auch irgendwie, zumal es uns ganz sicher besser geht als Pi und Tiger. Schließlich haben wir einen vollen Kühlschrank, Netflix, den gleichen Humor und verdammt viele Türen, die du knallen kannst, wenn du das Leben hasst. Ich weiß, es wird besser! Ich verspreche es dir!
 

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