MITTAGSKIND
Woher kommt das? Warum ist das so etwas Tolles, so etwas Besonderes? Warum geht mein Kind lieber einen halben Tag in den Kindergarten, um dann von mir mittags abgeholt zu werden, als gar nicht erst in den Kindergarten zu gehen? Was macht diesen Reiz "Mittagskind" aus?
Im Westen Deutschlands ist dieses Phänomen vielleicht gar nicht so verbreitet, weil dort die Mehrheit der Kinder Mittagskinder sind. Dort ist es Gang und Gäbe seine Kinder vor dem Mittagsschlaf abzuholen und ab dann von zu Hause weiter zu betreuen. Teilzeitlösungen in den Familien machen es möglich. Im Osten Deutschlands ist das anders. Die noch aus DDR-Zeiten verbreitete Vorstellung, Kinder gehören den ganzen Tag in den Kindergarten, damit die Eltern arbeiten gehen können, führt dazu, dass Mittagskinder eher eine Ausnahme, als eine Regel sind. Zumindest in meinem Umfeld.
Was hat das mit einer Verschwörung zu tun, werdet Ihr jetzt fragen? Tja, jetzt kommt`s!
Also die Sache mit dem Betreuungsschlüssel, die kennt Ihr ja sicherlich alle. In Ostdeutschland sind die Verhältnisse ungleich prekärer, das heißt hier fallen im Schnitt auf einen Betreuer deutlich mehr zu betreuende Kinder, als in Westdeutschland. Auf 12 Kinder (über drei Jahren) soll ein Erzieher in der Regel aufpassen, laut offiziellem Schlüssel. Wie ist das zu schaffen? Wie kann man bei dieser Quote eine Qualität gewährleisten, die unsere Kinder verdient haben?
Die Antwort: man muss tricksen. Ab jetzt wird es etwas spekulativ, ich gebe es zu. Aber so muss es sich zutragen, hinter den Kulissen.
Die Mittagskind-Verschwörungstheorie in 7 Schritten:
1. Zunächst werden Eltern angehalten, ihre Kinder mit einem Vollzeitbetreuungsplatz anzumelden, auch wenn sie den eigentlich gar nicht bräuchten. Das erreichen sie, indem sie beispielsweise sagen, dass man zwischen 8 Uhr und 8:30 nur die Kinder abgeben darf, die einen Vollzeitplatz haben. Denn je mehr Teilzeitkinder (statt Vollzeitkinder) in der Gruppe sind, desto mehr Kinder müssen in der Gruppe aufgenommen werden. Das soll ja tunlichst vermieden werden.
2. Dann setzen sich ausgewählte "Influencer" der Erziehungsbranche zusammen und beschließen, dass ab sofort das "Mittagskind" die strategisch sinnvollste Lösung ist, um die Betreuungsquote zu senken.
3. Die Neuigkeit wird nun den ErzieherInnen des Landes verkündet.
4. Diese flößen den Kindern ab sofort ein, dass es das Tollste ist, ein Mittagskind zu sein. Früher gehende Kinder werden bejubelt und den zurückbleibenden Kindern wird tröstend der Kopf getätschelt.
5. Während des Mittagsschlafes huschen die ErzieherInnen von Kind zu Kind und flüstern eindringlich in ihr Ohr: "Du möchtest Mittagskind sein! Du möchtest Mittagskind sein!" Es lebe die Macht der Suggestion.
6. Damit das Vorhaben durchschlagenden Erfolg hat, müssen die ErzieherInnen selbstverständlich auch die Eltern bearbeiten. So bietet es sich an, den Hard-Core Vollzeit betreuenden Eltern ab und an ein schlechtes Gewissen einzureden.
"Das können Sie Ihrem Kind doch nicht antun!"
"Es war schon so lange kein Mittagskind mehr!"
7. Und wenn die Eltern dann doch endlich mal ihr Kind als Mittagskind abholen, dann erhalten sie von der Erzieher-Front einen stolzen und anerkennenden Blick. Hier werden eben nicht nur die Kinder erzogen.
Nach diesem 7-Punkte-Programm sinkt die Betreuungsquote von formalen 1:12 auf reale 1:5. Nun gut, vormittags haben die ErzieherInnen dennoch volles Programm, allerdings wird bereits nach dem Mittagessen radikal ausgesiebt. Wenn sie gut gearbeitet haben, stehen die Eltern und Großeltern nach der Raubtierfütterung Schlange, um ihre überglücklichen Lieblinge abzuholen.
Verflixter Alltag Die Mittagskind-Verschwörung

© Verflixter Alltag
"Ich bin heute Mittagskind!", verkündet Wirbelwind freudestrahlend ihrer Erzieherin, als sie den Gruppenraum betritt. "Wie schön", antwortet diese. Auch ich als Mutter lächele, angesichts der vorherrschenden Freude. Nur die anderen Kinder im Raum schauen etwas traurig und neidisch herüber.