Es wäre einfacher. Es wäre bequemer.
Denkt man das ganze Szenario mal weiter, ist dies aber im Zusammenleben mit anderen sehr problematisch. Nimmt man nämlich eine solche Perspektive über sich und andere an, dann macht das was mit der Verbindung zu sich und zu anderen. Die Qualität dieser Bindung zu sich und zu anderen wird primär durch diese Perspektive bestimmt. Wie? Hier ein Beispiel:
Lehnt man seine Schatten ab – seine ängstlichen, wütenden, verhassten Anteile -- unterdrückt man sie und schickt sie förmlich ins für uns im Alltag unzugängliche Unterbewusstsein, so agieren diese Schatten trotzdem immer weiter.
Sie existieren ebenso nach dem Naturgesetz wie alles andere auf dieser Welt. Gewalt erzeugt Gegengewalt – das Pendel schlägt immer wieder zur anderen Seite aus.
Passiv-aggressiv sein, geistige Abwesenheit, Angst vor der Wut des Kindes, große Wut auf das Kind und sein Verhalten, Scham, Dinge und Situationen vermeiden und verleugnen, Überschlagshandlungen… Die Liste ist endlos.
Glücklicherweise gibt es heute eine immer größer werdende Gruppe von Eltern, die den bindungs- und bedürfnisorientierten Weg mit ihren Kindern gehen und entweder aus Erfahrung oder aus Therapien/ Büchern wissen, wie wichtig dies für die kindliche, mentale Gesundheit ist.
Dieser Weg bedarf oft Mühe, Mut und Motivation. In Anlehnung an die Debatte über das sogenannte Attachment Parenting möchte ich aber hier nochmals ganz klar unterstreichen, dass Attachment Parenting nicht identisch ist mit einer kompletten Selbstaufgabe und einem ausschließlichen Fokus auf das Kind. Es ist immer der beidseitige Blick, auf sich und auf das Kind, der zählt.
Kinder können sich sicher an eine Person binden, die sicher an sich selbst gebunden ist. Die nicht zu viele Aspekte unterdrückt, weder ihre eigenen noch die des Kindes. Die liebevoll auch die unangenehmeren und weniger glamurösen Seiten des Menschseins mit dem Kind und für das Kind hält und erforscht. So dürfen eben diese “Schattenseiten” ins Bewusstsein treten und bleiben nicht im seelischen Keller eingesperrt.
Den Weg musst du aber selbst gehen – you gotta walk the walk, not just talk the talk. Kannst du dies nicht für dich selbst (als Begleiter und Vorbild), so kannst du’s nicht für dein Kind.
Sich selbst komplett annehmen, in all seinen komischen Schatten UND Lichtgestalten, das ist für mich bedingungslose Liebe
Ich hänge mich hier mal etwas aus dem Fenster und teile eine kleine Anekdote mit euch. Im Laufe meiner Ausbildung zur Psychotherapeutin bin ich natürlich selbst in Therapie. Sich selbst als Klienten zu erfahren und den Weg zu gehen ist der einzige Weg später auch Wegbegleiter für andere sein zu können.
Ich liebe es und wünsche jedem Menschen, der dazu bereit ist, dass er eine ähnliche therapeutische Erfahrung macht wie ich. Immer wieder bin ich geschockt, fasziniert und gerührt, was mein Unterbewusstsein mir zeigt, wenn es denn darf.
Ich habe einmal zwei Wochen hintereinander den Termin einfach so vergessen. In dieser Form ist mir das vorher noch nie passiert. Ich weiß nicht, ob du schon einmal eine ähnliche Erfahrung gemacht hast, aber ich war total geschockt. So richtig mit offenem Mund und ohne Worte.
Am Morgen habe ich es noch gewusst, Nachmittags war die Info einfach “weg”. Beim ersten Mal war’s echt unangenehm, aber sowas kann mal passieren, richtig? Ich entschuldigte mich und es war ok. In der nächsten Woche wieder genau dasselbe. Als ich schließlich vor meiner Therapeutin saß, da saßen Angst und Scham ebenso dort. Ich war fast panisch, weil ich nicht wusste wie ich es ihr erklären konnte.
Ich habe so viel Respekt vor ihr und liebe die Arbeit mir ihr. Meine Angst sagte: “Sie mag dich nicht mehr und ist wütend auf dich.”
Scham sagte: “Du bist nicht gut genug. Jetzt weiß sie’s.”
Meine Therapeutin lud mich ein, ohne Wertung und Wut, diese Erfahrung gemeinsam zu erforschen. Meinen Gefühlszustand zu erkunden. Die Intensität dieser Gefühle haben mich fast umgehauen.
Da war sie. Die kleine Stephie. Die solche Angst hatte, dass sie alles falsch macht und sich solche Mühe gibt, alles gut zu machen. Das Mädchen, dass Angst davor hat, dass sie verlassen wird, wenn sie Fehler macht. Druck, Traurigkeit, Angst. Da war sie.
Sie hat sich die Therapeutin gut angesehen, bevor sie sich traute sich zu zeigen. Und blöd ist sie auch nicht. Das war nämlich ein Test. "Magst du mich noch, wenn ich nicht nur einen, sondern zwei Fehler hintereinander mache? Die dich echt nerven werden und dir Umstand bereiten? Bist du dann immer noch so verdammt wertfrei, positiv und annehmend in deiner Präsenz?"
Das war sie. Mehr noch. Mein inneres Kind, die kindlichen Anteile in mir wurden begrüßt, gehalten, gesehen, angenommen, respektiert. Dieser Anteil meiner Erfahrungen und meiner Persönlichkeit stand lange im Schatten, da er sich bedrohlich angefühlt hat.
Sind die richtigen, sicheren Grundlagen gegeben, so trauen sich diese Teile aus unserem Unterbewusstsein heraus und können integriert werden.
Ich wäre gern diese sichere Basis für meine Kinder. Du auch?
Es ist ein kreativer und ganzheitlicher Prozess. Im sicheren Rahmen und mit Achtsamkeit, Begleitung, und vor allem mit viel Selbstliebe.
Wie in der Elternschaft, oder? Es ist eine Haltung. Es ist eine Lebensphilosophie. Man ist nie fertig.
Du musst nicht perfekt sein. Du musst nur die Bereitschaft haben.
Dann kannst du wieder frei sein, deinen Schatten jagen und mit ihm spielen.
Deine Stephanie
Eltern-Evolution Kennst du deinen Schatten?

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Sich mit seinen Schattenseiten auseinanderzusetzen und diese zu akzeptieren ist so ätzend manchmal. Es wäre doch viel schöner, nur gut von sich selbst zu denken, oder? Oder sich selbst in Konfliktsituationen nur als Opfer zu sehen, und niemals als Täter oder Co-Kreateur (hier spreche ich von Konfliktsituationen, nicht von traumatischen Erlebnissen).