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Marlene-Hellene Schlaganfall auf Zelluloid

Blog Marlene Hellene, Klassenfoto
© Kontrec / iStock
Wer zahlt denn ernsthaft 55,80€ für eine Mappe fragwürdiger Bilder vom eigenen Kind? Mehrfach! Eltern. Ein großartiger Gast-Beitrag von der Autorin Marlene Hellene, mitreißend, witzig, ehrlich – wie wir es von ihren Tweets kennen und lieben.

Berufsberatung:
 
„Guten Tag. Ich hasse Kinder und liebe die einzigartige Ästhetik der frühen achtziger Jahre. Welchen Job würden Sie mir empfehlen?“
 
„Diese Eigenschaften passen perfekt! Sie müssen unbedingt Schulfotograf werden.“
 
So oder ähnlich muss es sich täglich in Berufsberatungsstellen in ganz Deutschland abspielen.
 
Aber fangen wir von vorne an: Meine Tochter war erst wenige Tage stolzes Schulkind, als sie mir einen Zettel überreichte. Aha, der Schulfotograf kommt, ob das Kind abgelichtet werden soll. Nunja, ich kannte dieses Schauspiel ja schon aus der Zeit im Kindergarten. Wir waren bereits stolze Besitzer sehr äh interessanter Fotografien meiner Kinder im Alter von eins bis sechs. Aber neues Spiel, neues Glück. Schulfotografen spielen bestimmt in einer ganz anderen Liga, als die Kindergartenkollegen und so ein Klassenfoto ist ja auch eine Erinnerung fürs Leben. Ich naives Mäuschen!
 
Spätestens, als ich morgens das Schulgebäude betrat und mir Siebenjährige in Anzug nebst Fliege oder Ballkleid und Krönchen entgegenkamen, fiel er mir dann auch wieder ein, der Zettel von vor drei Wochen: Der Schulfotograf is in da house! Ein schneller Blick am eigenen Kind herunter brachte wenigstens insoweit Erleichterung, dass das Schlafanzughose gegen eine Jeans getauscht wurde und naja, so ein Schlafanzugoberteil geht ja auch noch als Shirt durch. Jetzt musst das ganze nur noch dem Kind verklickert werden:
 
„Der Schulfotograf ist heute da und macht tolle Fotos von Dir. Ist das nicht super?“
„Nein, ich will nicht. Da muss ich still sitzen und lächeln und ich hasse lächeln.“
„Dann lächle halt nicht.“
„Gut, dann strecke ich die Zunge raus.“
„Das fände ich jetzt nur so mittel gut.“
„ICH MACH ABER WAS ICH WILL. BLÖDER, BLÖDER, BLÖDER FOTOGRAF!“ (Hier Weltkriegsgeräusch einfügen).
 
Ja, so ein Besuch des Schulfotografen sorgt für einen entspannten Morgen. Nicht.
 
Mittags sah das dann schon ganz anders aus:
 
„Und, wie war es in der Schule? War der, dessen Namen nicht genannt werden darf da?“
„Jaaaaa. Ich musste Ameisenscheisse sagen. Ameisenscheisse, Ameisenscheisse, Ameisenscheisse. ICH LIEBE DEN SCHULFOTGRAFEN. DER SOLL JEDEN TAG KOMMEN. AMEISENSCHEISSE!“
 
Nachdem so ein Schulfotografentag also doch noch erfolgreich mit einem neuem Lieblingswort endet, gerät das Thema seeligerweise auch schnell wieder in Vergessenheit.  Der Alltag plätschert so vor sich hin, alles ist friedlich und das kommende Unheil bleibt ungeahnt und fern. Erstmal. Bis plötzlich die Mappe im Schulranzen auftaucht. Die Mappe des Grauens. Die Mappe der Wahrheit. Die Fotos sind da.
 
Es ist eine naive, eine unschuldige Freude, die einen kurz überfällt. Die ersten Fotos des Schulkindes. Juhuuu! Diese Freude wehrt jedoch nur kurz: „Kind, hast du dich in deinen Schulranzen übergeben? Was sind das für Flecken auf den Bildern?“ Ach, huch nein. Das ist nur der Hintergrund, den der Fotograf in Form einer Leinwand hinter mein Kind gestellt hat. Jeder kennt ihn, diesen Hintergrund. Er zierte schon unsere Schulfotos anno dazumal. Er ist grün/grau mit wolkenartigen Flecken und sieht aus wie eine Mischung aus schimmliger Mandarine und dem Döner von letzter Nacht. Am Morgen danach. Auf dem Boden eines Eimers. Ich meine, ernsthaft, warum? Kann man die Kinder nicht einfach auf dem Schulhof vor einem Baum fotografieren? Oder vor der Tafel? Selbst der Schulbus mit der aufgeklebten Werbung für die örtliche Kreissparkasse würde ein hübscheren Hintergrund abgeben. Und wer ist eigentlich dieses irre dreinblickende Kind vor der Schimmelwand? Achso. Das eigene. Aber warum schaut es so? Hat es eine Gesichtslähmung? Warum ruft denn von der Schule keiner an, wenn das Kind eine Gesichtslähmung hat? Hat irgendwer den Schlaganfallerstanzeichentest vorgenommen?
 
„Kind, was war da mit dir los, als der Fotograf da war? Hattest du Schmerzen? War dir übel?“
„Da lächle ich.“
„Und was ist mit deiner Hand los? Warum hältst du die so eigenartig in die Höhe? Hattest du einen Krampf?“
„Ich winke. Das hat der Fotograf gesagt.“
 
Auch das Klassenfoto ist optisch eher sagen wir mal schwierig: Drei Kinder popeln, fünf sehen aus, als müssten sie dringend mal Kacka und der Rest „lächelt“ so verkrampft, dass man Angst hat, es könnten Spätfolgen auftreten. Am liebsten würde ich die Fotos im Sondermüll entsorgen, die Erstklässler schnappen, auf eine Wiese setzten und selber ein Klassenfoto machen. Aber dann käme ich wahrscheinlich ins Gefängnis. Nicht wegen der Entführung von zwanzig Erstklässlern, nein wegen des Verstoß gegen die Datenschutzgrundverordnung.
 
Letztlich entscheidet man sich trotzdem für den Kauf einiger Bilder. Weil Erinnerungen ja so wichtig sind. Auch, wenn es sehr eigentümliche Erinnerungen sind. So eine Fotomappe enthält eine Unmenge an verschiedenen Varianten von Bildern: Kind vor Kotzfleckenwand in farbig, in schwarz/weiss, als Postkarte, als Passbild, zum Aufkleben, als Schlüsselanhänger, mit Passepartout, in groß, in klein, in rund und in eckig. Alle Fotos zusammen kosten dann nur „preiswerte“ 55,80 Euro. Sollte man entgegen des lautstarken Protests des Kindes jedoch der Meinung sein, ein Porträt und ein Klassenfoto genügen, wird’s kniffelig. So einfach kann man sich nämlich nicht selbst entscheiden, was man möchte. Das wäre ja noch schöner. Der Fotograf gibt lediglich drei verschiedene Varianten vor. Alle Bilder für die „preiswerten“ 55,80 Euro oder eine günstige Variante, aus deren Beschreibung man nicht schlau wird, welche Bilder dazu gehören oder eine andere günstige Variante, aus deren Beschreibung man nicht schlau wird, welche Bilder dazu gehören. Eine Stunde, viele Flüche („welches ist denn jetzt das 9,3453 auf 18,38595 formatige mit Lichteinfall von oben links Kackbild?“) und drei Schnäpse später legt man dann entnervt 55,80 Euro in den vorgesehenen Umschlag und schwört sich, dass das Kind beim nächsten Fotografentermin krank ist.
 
Warum man es letztlich doch jedes Jahr wieder aufs Neue mitmacht? Einerseits weil das Gehirn über einen erstaunlichen Verdrängungsmechanismus bezüglich traumatischer Erlebnisse verfügt (eigentlich vergisst man einfach wieder, dass der Schulfotograf kommt und erst in der Schule angekommen kann man nicht mehr wegrennen. Die schließen die Türen ab. Echt!), anderseits weil man dem Kind den Lachanfall nicht verwehren möchte, wenn es die Bilder irgendwann erwachsen und ohne Finger in der Nase auf dem Speicher findet.
 
Ich zum Beispiel kann bis heute den hiesigen Apotheker nicht anschauen, ohne sein „Ich muss Kacka - Gesicht auf meinem Klassenfoto von 1988 vor Augen zu haben. Und alleine für diesen Spaß lohnt es sich am Schluss ja dann doch irgendwann.

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Und für die kleinen Happen Alltagsgeschichten zwischendurch empfehlen wir den Twitter-Kanal von MarleneHellene

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