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Einer schreit immer – die Wahrheit über das Leben mit Zwillingen „Unsere Kinder sind kleine Tyrannen!“

Martina Leibovici-Mühlberger ist Ärztin, Psychotherapeutin und Erziehungsberaterin. In ihrem neuen Buch „Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden“ rechnet die Wienerin mit der Gesellschaft ab.
Autor: Dr. Martina Leibovici-Mühlberger   Verlag: edition a   ISBN: 978-3990011386
Autor: Dr. Martina Leibovici-Mühlberger
Verlag: edition a
ISBN: 978-3990011386
© Dr. Martina Leibovici-Mühlberger, Verlag: edition a

Nicht Pädagogen und Eltern, sondern jeder einzelne in unserer Gesellschaft ist Schuld, dass Kinder zu unzufriedenen Leistungsverweigerern geworden sind. Die Buchautorin spricht von einer „Disneyland-Diktatur“. Unsere Bloggerin Anne Attersee – Blog Einer schreit immer – hat mit der Autorin gesprochen und Ihr die Fragen gestellt.

Einer schreit immer (ESI): Sind unsere Kinder denn Tyrannen und warum?

Leibovici-Mühlberger: Ja ein gewisser Prozentsatz schon. Und dieser Prozentsatz wird immer größer. Meistens sind es die sensibleren Kinder, die für Kulturströmungen besonders empfänglich sind, die schließlich auffällig werden. Ich spreche da etwa von konsequenter Leistungsverweigerung oder von Essstörungen. All das ist ein Aufschrei der Kinder, sich gegen eine Gesellschaft zu wehren, die ihnen ein kindgerechtes Aufwachsen verweigert und sie stattdessen für ihre Zwecke instrumentalisiert.

ESI: Welche Kinder und welche Familien sind besonders gefährdet?

Leibovici-Mühlberger: Es sind gerade die Kinder mit besonders bemühten Eltern. Der Grund liegt in unserer Gesellschaftsentwicklung. In den letzten 25 Jahren haben wir die große Freiheit und die Entfaltung unseres Potenzials als Kulturmaxime ausgerufen. Entsprechend dieses Glaubensgrundsatzes „Du bist das Wichtigste. Du entscheidest alles selber. Du machst was du möchtest.“, wollen Eltern für ihre Kinder natürlich das Beste. Sie sagen: „Ich muss meinem Kind maximale Freiheit und Förderung geben.“ Viele Eltern glauben, wenn sie Grenzen setzen, dann könnte das Kind ja einen Schaden nehmen. Dann beginnt gleich das Babyschwimmen und die musikalische Frühförderung sowie das Erlernen der Geige. Wir probieren mit den Kindern alles aus. Aber nur so lange es Spaß macht. Wenn es keinen Spaß macht, dann hören wir wieder auf damit, denn wir leben ja in einer Spaßgesellschaft.

ESI: Gerade aber diese individuellen Bedürfnisse der Kinder werden ja derzeit in vielen Kindergärten gefördert. Stichwort: „Offenes Haus“.

Leibovici-Mühlberger: Ja genau. In unseren Kindergartengruppen sind heute von 25 Kindern 25 Prinzen und Prinzessinnen, die nicht einmal mehr gemeinsam ihre Jause essen, sondern nur dann jausenen, wenn sie Lust dazu haben. Was die Kinder in all ihrer Individualität damit nicht lernen ist: Gemeinschaftsleben oder etwa eine Bedürfnisverschiebung. Sie lernen dadurch keine Selbstorganisation und auch kein Durchhaltevermögen. Sie lernen nicht, dass man sich für etwas Mühe geben muss und somit können sie dann später auch keine Freude entwickeln, die durch Selbstwirksamkeit entsteht. Ein Kind malt heute zwei Minuten und lässt dann den Stift fallen. Es wird dadurch auf die Konsumgesellschaft trainiert, die durch den Einkauf kurze Momente des Spaßes verheißt. Das ist ein Betrug am Kind. Es ist auch nicht sinnvoll, wenn heute Fünfjährige das Urlaubsziel aussuchen dürfen. Wir leben dann in einer Disneyland-Diktatur.

ESI: Warum gibt es diese pädagogischen Konzepte dann überhaupt?

Leibovici-Mühlberger: Da hat man einzelne Personen, die unter dem Druck des Gesellschaftsprimates stehen. Wer nicht als altbacken, autoritär oder schrullig gelten will, muss dieses Konzept vertreten. Hinter all dem steht aber ein gigantisches Marketing, weil wir an Kindern sehr gut verdienen und weil die Idee von Freiheit verkauft wird. Die Wirtschaft verdient mit dem Kind als Konsumprodukt und als Konsumträger. Außerdem sind Kinder und Jugendliche generell phantastischen Konsumenten. Wir haben hier einen jungen Menschen, der ein untrainiertes Hirn hat. Wir haben ein Hirn, das auf Basis seiner Impulse agiert und somit haben wir viele potenzielle Konsumenten. Alleine in Österreich haben die Kinder 400 Millionen Euro an Taschengeld zur Verfügung – Kinder sind somit Marketing-Objekte.

ESI: Und wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden?

Leibovici-Mühlberger: Dann kommt das grausame Erwachen: Wir leben doch in einer beinharten Leistungsgesellschaft in der unglaubliche Konkurrenz herrscht. Die Kinder lernen dann erst im Kindergarten oder in der Schule, dass sie leise sein müssen, wenn andere sprechen. Oder dass sie sitzen bleiben müssen. Dieser Lernprozess ist dann umso schwieriger. Fraglich beleibt überhaupt, ob diese jungen Erwachsenen, die nur nach dem Lustprinzip agieren, überaupt einmal in einen Arbeitsprozess hineinfinden. Denn plötzlich brauchen wir keine Prinzen und Prinzessinnen mehr, sondern leistungsstarke Menschen. Dort laufen die Tyrannenkindern dann gegen die Wand. Die Strategie „Ich bin ein Genie“ geht dann plötzlich nicht mehr auf. Und die Reaktion der jungen Menschen zeigt dann den großen Frust. Die Eltern sind dann unglaublich enttäuscht. Die haben ja unter großem Eigenverzicht ja alles gemacht für ihr Kind. und das wendet sich dann in brutaler Form ab. Viele der Tyrannenkinder wenden sich dann auch von der Gesellschaft ab und werden Aussteiger. Also da bekomme ich eine richtige Zukunftsangst. Die nächste Generation wird uns so wie es aussieht nicht pflegen wollen.

ESI: Deswegen plädieren Sie für ein Kinderministerium?

Leibovici-Mühlberger: Genau. Es geht darum, die Gesellschaftsverträglichkeit aus dem Blickwinkel des Kindes prüfen. Das beginnt beim Realmanagement im Supermarkt und den Süßwarenkassen. Die billigen, minderwertigen und fettigen Lebensmittel sind ja immer auf der Höhen von Kleinkindern drapiert. Wäre das verboten, so würde man mit vielen Begehrlichkeiten gleich aufgeräumen. Aber warum passiert nicht? Klar, weil wir verdienen ja am fettleibigen Kind auch wieder gut… Und das ist letztendlich auch die Botschaft im Buch: Wir verbrennen die Generation und es wird sich rächen. Denn was die Tyrannenkinder eigentlich machen ist: Sie halten uns einen Spiegel der Gesellschaft vor den Kopf. das zeigt sich ja auch bei all den ADHS-Kindern: Statt ihnen genügend kindgerechte Bewegungsmöglichkeiten zu geben, dämpfen wir sie pharmakologisch. Das ist meine Kritik an der ganzen Geschichte: Wir geben den Kindern nicht mehr den Aufwachsraum, der ihnen zusteht.

ESI: Autorität hat immer so einen negativen Beigeschmack. Stimmt das?

Leibovici-Mühlberger: Es gibt einen großen Unterschied zwischen Autorität und Autoritär! Autoritäre Erziehungsmodelle bedeuten: „Du musst etwas tun, weil ich es sage.“ Das geschieht also aus einer Übermacht heraus, die keinen logischen Sinn hat. Autorität hingegen bedeutet, dass man als Elternteil die Bürde der Verantwortung trägt. Man hat den Auftrag, den Anvertrauten, also das Kind, zu schützen und das bedeutet im Hinblick auf Erziehung: Ich habe Lebenserfahrung und damit einen Erfahrungsvorsprung den ich meinem Kind auf Basis von liebevoller Bindung und Beziehung zur Verfügung stelle. Ich habe also den Auftrag mein Kind fit fürs Leben zu machen.
 

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