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Kolumne "Dietz & Das" Kleinkind adé! Next Stop? Enkel!

Frau und Mann steht vor einer grauen Wand
Shari und André Dietz 
© Ben Hammer
So, wir haben jetzt das Gröbste hinter uns! Meine Töchter sind vier, sechs und acht, mein Sohn neun Jahre alt. Auch wenn meine älteste Tochter noch gefüttert, gewickelt und wie ein Kleinkind versorgt werden muss, so merken wir doch: es wird „easier“!

Wenn Freunde mit Kleinkindern kommen, denken wir: „Geil, das wir das hinter uns haben. Next Stop: Enkel!" und: „Leute, soooooo krass waren unsere Kinder nie!“ Oder vielleicht doch? Die Zeit heilt nämlich nicht nur alle Wunden, sie lässt sie beizeiten sogar so gut vernarben, dass aus den verzweifeltsten Momenten die größten Heldengeschichten werden. Doch das ist eben so ein Ding mit der Zeit, denn gleichzeitig denke ich immer an das, was viele (meist ältere) Zeitgenossen kurz nach unserer ersten Niederkunft, meist ungefragt, prophezeit haben: “Genießt die Zeit, sie werden so schnell groß.“  

„Jaja, und wenn Du schielst, bleiben die Augen stehen!“ 

Allein die Vielzahl dieser „Genieß die Zeit“-Kommentare und ihre mannigfaltigen Ausführungen, ließen mich an ihrem Wert zweifeln. Außerdem ist genießen wirklich relativ.  Zwischen vollgeschissenen Windeln und viel zu wenig Schlaf, wirkt der Rat „Genieß es!“ wie ein verstörender, höchst sarkastischer, verbaler Fausthieb auf die bereits verquollenen Augen. 

Vier Kinder in fünf Jahren – wohooo! 

Ich sage es ungern, aber diese Menschen hatten Recht. Und so gebe auch ich diese „Weisheit“ (wenn auch wohldosiert) ebenso weiter, wie ich auch mal vorhatte nie den Satz „Du bist aber groß geworden!“ oder „Wenn Du Dein Zimmer nicht aufräumst, darfst Du heute Abend nicht fernsehen.“ sagen wollte. Denn er stimmt. Irgendwie. Und ich denke das, obwohl wir vier Kinder haben, sprich: wir haben alles viermal erlebt und genießen können. Doch haben wir das immer? Unser Sohn musste sofort nach seiner Geburt dreimal operiert werden und wir verbrachten die ersten fünf Monate fast durchgehend im Krankenhaus. Genießen konnten wir die Zeit danach. Vielleicht sogar, aufgrund unserer durch diesen Vorfall entstandenen Demut, noch viel mehr. Außerdem lag der Fokus ja nur auf einem Kind.

 
Unsere Tochter würde ein Leben lang auf uns angewiesen sein, nicht sprechen, nicht laufen, sich nie allein versorgen können. 

Unsere älteste Tochter musste sich die Anfangszeit lediglich mit ihrem achtzehn Monate alten Bruder teilen. Genießen konnten wir hier aufgrund unseres ausgedehnten Nestbaus auch nur marginal. Als sie zweiundzwanzig Monate war, bekamen wir die Diagnose „Angelman Syndrom“. Wir erfuhren auf einen Schlag, dass unser gesamtes Leben nicht so verlaufen würde, wie wir es geplant hatten. Unsere Tochter würde ein Leben lang auf uns angewiesen sein, nicht sprechen, nicht laufen, sich nie allein versorgen können. 

Zu dieser Zeit war unser drittes Kind drei Monate alt und die anfängliche „Neues-Baby-Hochphase“ war somit urplötzlich getrübt. Bereits die Zeit kurz nach ihrer Geburt wurde begleitet von einer Ungewissheit über die Entwicklungsverzögerung ihrer Schwester und der damit verbundenen Ärzte-Odyssee.  

Haben wir zu wenig genießen können?

Hatten wir gar zu wenig Fokus auf das Neugeborene? Hat sie gar darunter gelitten? Nach der Verarbeitung der Diagnose, aufgrund des wunderschönen Umstandes, dass wir bereits drei Kinder hatten und Shari sowieso zu Hause bleiben musste, wurden wir nachlässiger in Sachen Verhütung. Außerdem dachten wir, es wäre doch schön für alle einen „vollen Stall“ zu haben. Und so kam mit „geplanter Nachlässigkeit“ ruckzuck Kind Nummer Vier zur Welt. Die Kleinste bekam viel Aufmerksamkeit, unser Leben war voll auf Familie ausgelegt. Wir wussten, wie der Hase läuft. Wir konnten viel mehr: genießen! So bekamen wir vier Kinder in fünf Jahren – und plötzlich ist unser Ältester zehn. 

Yeah! Endlich raus aus dem Gröbsten! 

10 Jahre Eltern-Dasein – das sitzt und lässt meinen ersten Satz sehr egoistisch erscheinen: Wir haben das Gröbste hinter uns! Erinnern wir uns doch einmal an unsere Kindheit. Wie lang kommt uns die Spanne zwischen unserem fünften und unserem neunten Geburtstag vor und wie schnell werden unsere Kinder groß, ohne dass wir es merken? Die Relativität der Zeit. Einstein für Anfänger. 

Heute saß ich mit zwei meiner Töchter am Tisch, schaute sie an und dachte: Bin ich ihnen bis hierhin gerecht geworden, habe ich bei ihnen nicht Dinge verpasst, die ich mit unserem Erstgeborenen noch im Übermaß getan habe? Hat unser Sohn dafür später zurückstecken müssen? Hat unser drittes Kind, oder gar alle, im Schatten des Syndroms unserer ältesten Tochter aufwachsen müssen? Haben wir kostbare Zeit nicht nutzen können? Habe ich dem einen Kind nicht viel mehr vorgelesen, mir mehr Notizen zu seiner Entwicklung gemacht, mehr gekuschelt oder sogar mehr unternommen? In meiner empirischen Dietz-Familien-Studie ist das Kind, dem ich am wenigsten vorgelesen habe, am lesebegeistertsten und alle vier sind glücklich, aufgeschlossen und freundlich. 

Macht aus Mücken keine Elefanten! 

Klar ist: Die Zeit ist jetzt! Und es ist nie zu spät. Es startet nicht im nächsten Urlaub oder wenn die Pandemie überstanden ist. Oder gar erst mit den Enkeln. Ich versuche die Zeit mit unseren Kindern einfach immer zu genießen und halte mir vor Augen, was ein versauter Teppich oder ein „Bremsstreifen“ in der Toilette im Angesicht dieser prägendsten aller Lebensabschnitte bedeutet. Aber ich habe gut reden, ich kann die Zeit jetzt einfach wirklich besser genießen, da alles entspannter geworden ist. Und was sagen die Alten wieder? „Kleine Kinder, kleine Probleme, große Kinder…“ – doch das ist eine andere Geschichte und über diese Brücke werde ich gehen, wenn es so weit ist. 

ELTERN

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