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Egoistische Kinder Sei Pippi, nicht Annika: Wie viel Ellenbogen-Mentalität ist gut für ein Kind?

Egoistische Kinder: Mädchen mit Megaphon
Wie können Eltern verhindern, dass ihr Kind zu egoistisch wird?
© RichVintage / Getty Images
Was zeichnet egoistische Kinder aus? Und wie können Eltern ein zurückhaltendes Kind stärken, damit es nicht untergeht? Ein Gespräch mit Psychologin Stefanie Rietzler.

Teilt man Kinder in zwei Schubladen ein, scheint es die egoistischen Kinder zu geben, die meist nur an sich denken – und auf der anderen Seite die rücksichtsvollen Kinder, die sich oft zurücknehmen und nicht immer auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind (und dadurch leider oft auch den Kürzeren ziehen oder untergehen). 

Wenn wir an Pippi Langstrumpf denken, haben wir das stärkste Mädchen der Welt vor Augen, das alles kann und immer an sich glaubt. Aber wenn wir mal ehrlich sind, ist Pippi zwar sozial, aber auch ein bisschen egoistisch und gerne Anführerin. Und trotzdem ist sie bis heute das Vorbild vieler Kinder. Ihre beste Freundin Annika dagegen ist eher ein zurückhaltendes, braves Mädchen, das Regeln befolgt und ihre eigenen Bedürfnisse nach hinten stellt – im Gegensatz zur meinungsstarken Pippilotta. 

Aber wie viel Egoismus ist eigentlich gesund? Und wann wird es zu viel? Wo liegt die Grenze? Darüber haben wir mit Psychologin und Autorin Stefanie Rietzler gesprochen. Die unter anderem zwei Bücher über Selbstwert und Selbstbewusstsein geschrieben hat (Für Eltern: "Geborgen, mutig frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden"; Für Kinder: "Jaron auf den Spuren des Glücks") und eine Akademie für Lerncoaching in Zürich leitet.

ELTERN: Schon in den ersten Lebensjahren werden viele Kinder in Schubladen gesteckt und entweder als egoistisch oder sozial bezeichnet. Sollten wir achtsamer sein mit solchen Bewertungen?

Stefanie Rietzler: Gerade bei Kindern sollten wir vorsichtig mit solchen Zuschreibungen sein. Denn kleine Kinder sind gar nicht in der Lage, sich in ihre Mitmenschen hineinzuversetzen, ihre Bedürfnisse hintanzustellen und zu verstehen, wie ihr Verhalten auf andere wirkt. 

Ab wann sind Kinder in der Lage, sich in ihre Mitmenschen hineinzuversetzen? 

Die meisten Kinder können sich erst mit etwa vier bis sechs Jahren in andere empathisch einfühlen und ihre Perspektive übernehmen – und das auch nur zu einem gewissen Grad.

Viele Eltern wissen das vermutlich gar nicht ...

Nein, und sie sind dann entsprechend frustriert, wenn das Kleinkind vermeintlich rücksichtslos agiert: "Der will mit dem Kopf durch die Wand!", "Du kannst deinem Bruder nicht einfach das Spielzeug wegreißen, du musst auch mal teilen können!" Wenn wir solche normalen Verhaltensweisen von Kindern als egoistisch abstempeln, tun wir ihnen unrecht. Wirklich egoistisch handeln können Kinder erst ab dem Schulalter, wenn sie sich bewusst Vorteile auf Kosten anderer verschaffen. 

Aber das tun nicht alle Kinder, oder?

Wie wir alle haben Kinder ein starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Sie möchten von anderen akzeptiert werden und sind darauf angewiesen, als Teil einer Familie, Klasse, Clique oder Freundschaft geschätzt zu werden, damit es ihnen gut geht. Damit verbunden ist die Angst, von anderen zurückgewiesen zu werden. Bei manchen Kindern ist diese Angst so groß, dass sie sich ihrem Umfeld stark anpassen und ihre Wünsche und Bedürfnisse ständig hintanstellen. Hier besteht das Risiko, dass sie zu kurz kommen, von Freund:innen und Mitschüler:innen ausgenutzt werden und ihre Ziele nicht erreichen. 

Was würden Sie Kindern raten, die oft zu kurz kommen? 

Diese Kinder sollten in Begleitung entdecken dürfen: Ist das noch ein Geben und Nehmen oder werde ich ausgenutzt? Wo mache ich mich selbst klein? Wo verschaffen sich andere auf meine Kosten einen Vorteil? Und sie sollten lernen, sich dagegen zu wehren. 

Und wie viel Ellenbogen-Mentalität ist gesund? 

Es sollte nicht darum gehen, das richtige Maß an Ellenbogen-Mentalität oder die optimale Dosis an Egoismus zu ermitteln. Viel gesünder ist es, dass Kinder ihre eigene innere Stimme entwickeln und auf diese hören. Dass sie wahrnehmen können, was sie brauchen und was ihnen wichtig ist; dass sie ihre Bedürfnisse äußern und sich dafür einsetzen; dass sie sich gegen Forderungen und Erwartungen anderer abgrenzen können, wenn diese ihnen nicht guttun.

Kurz: Es ist wichtig, ein gesundes Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit zu entwickeln statt Ellenbogen-Mentalität und Egoismus. 

Hat es nicht auch Vorteile, egoistisch zu sein? 

Kinder, die sehr dominant auftreten, haben im Grundschulalter oft eine starke Position in der Klasse oder Clique. Jeder möchte sich gut mit ihnen stellen. Für diese kleinen Anführer:innen fühlt es sich gut an, relativ unantastbar zu sein. Sie genießen es, dass andere sie hofieren und sie in der Gruppe den Ton angeben können. Sie entscheiden, was gespielt wird, wer dabei sein darf und müssen ihre Wünsche nur selten hintenanstellen. Während manche Eltern dies mit sorgenvollem Blick beobachten, sind andere stolz darauf, dass ihr Kind so unabhängig erscheint und sich nicht von anderen reinreden lässt. 

Aber?

Egoismus hat natürlich auch seinen Preis: Sehr dominant auftretende Kinder lernen kaum Rücksicht auf andere zu nehmen und können entsprechend schlecht mit Frust umgehen, wenn sie sich wider Erwarten nicht durchsetzen können. Und sobald Zusammenarbeit gefordert ist, sind Konflikte vorprogrammiert. Andere Gruppenmitglieder fühlen sich herumkommandiert und ärgern sich, dass ihre Meinung zu wenig gehört wird. Egoismus kann einsam machen.

Wie können Eltern verhindern, dass ihr Kind zu egoistisch wird? 

Wir können den Kindern im Alltag vermitteln und vorleben: "Du hast Bedürfnisse und Wünsche, die du ausdrücken darfst und es wird Rücksicht darauf genommen. Alle anderen Menschen haben auch Bedürfnisse und Wünsche und möchten, dass diese beachtet werden. Wir als Familie suchen Lösungen, damit es für alle stimmt."

Und es beeinflusst Kinder auch, wie ihre Bezugspersonen mit Dritten umgehen.

"Kümmern sich Mama und Papa auch um andere? Können meine Eltern anderen etwas gönnen und sich mit ihnen über Erfolge freuen? Oder sind sie schnell neidisch und glauben, zu kurz zu kommen?"

Was können Eltern noch tun?

Wir sollten den Fokus mit den Kindern darauf richten, wo Menschen sich solidarisch verhalten, einander unterstützen und Hoffnung schenken.

Studien zeigen auch, dass Einsamkeit Egoismus fördert.

Es ist daher hilfreich, wenn Eltern darauf achten, dass ihr Kind genügend Möglichkeiten hat, Freundschaften zu pflegen.

Inwiefern können Eltern ihr Kind stärken, wenn es oft den Kürzeren zieht, weil es zurückhaltender als andere Kinder ist? 

Wenn es einem Kind schwerfällt, für sich einzustehen, fordern Bezugspersonen oft, das Kind solle "sich endlich durchsetzen" oder "nicht darauf hören, was die anderen von ihm denken". Gerade zurückhaltende Kinder geraten dadurch zusätzlich in Stress. Sie können jetzt nur noch entscheiden, wessen Druck sie nachgeben – dem der Eltern oder dem der Gruppe. In sich hineinhorchen und ihre eigene innere Stimme hören können sie dann nicht mehr. 

Wie machen Eltern es besser? 

Nehmen wir stattdessen wahr, wie schwierig es für unser zurückhaltendes Kind ist, sich abzugrenzen. Nun können wir mit ihm besprechen, woran es merkt, dass es ihm in der Gruppe nicht mehr gut geht und in welchen Situationen es sich gerne trauen würde, anders zu reagieren.

Ein Beispiel: "Luca scheint es sehr wichtig zu sein, dass du mitkommst. Wie ist das denn für dich?" Wir können dem Kind helfen, seine innere Zerrissenheit wahrzunehmen, indem wir sagen: "Du willst eigentlich nicht mitgehen – aber du hast das Gefühl, du musst dir die Freundschaft irgendwie verdienen? Und dass Luca sauer ist, wenn du Nein sagst?" Nun kann man gemeinsam überlegen, wie das Kind reagieren könnte.

Vielleicht legt man sich gemeinsam Sätze zurecht, vielleicht übt man es sogar im Rollenspiel. Außerdem ist es wichtig, dass in der Familie ein Klima herrscht, in dem das "Nein" des Kindes respektiert wird. 

ELTERN

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