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Leben mit Geburtsblindheit "Es hätte auch ein Pflegefall werden können"

Leben mit Geburtsblindheit: Vater blickt mit Sohn in die Ferne
© kieferpix / Adobe Stock
"Er ist ja nur blind geworden. Und damit können wir gut leben", erzählt Leons Mutter Silke Müller. Sie ist froh, denn sie steht mit den Problemen eines blinden Kindes nicht alleine da.

Leon ist blind

"Hallo, wer ist da", ruft der kleine Junge, als er zur Wohnungstür hereinkommt. Dann steht er vor der halb geöffneten Wohnzimmertür und lauscht aufmerksam in unsere Richtung. Er heißt Leon und kommt gerade aus dem Kindergarten. Seine Mutter springt vom Ledersofa auf und geht zu ihm hin. "Hi Spatz. Zieh' erstmal deine matschige Hose aus", sagt sie. Draußen rauscht ein Auto vorbei. Der Junge beginnt seine Hose auszuziehen. Aber die ungewohnten Geräusche aus dem Wohnzimmer lassen ihn nicht los. "Wer ist denn da", fragt er jetzt schon ungeduldig. Einfach einen Blick durch die offene Wohnzimmertür zu werfen, fällt ihm nicht ein. Denn Leon ist blind.

Zuviel Sauerstoff

Sauerstoff - der wichtigste Bestandteil unserer Atemluft - hat die Netzhäute in seinen Augen abgelöst. "Es war in der 24. Schwangerschaftswoche", erzählt Leons Mutter Silke Müller merkwürdig gelassen, "Ich hab' bei der Schwangerschaftsgymnastik plötzlich Presswehen bekommen.

Um nach Marburg zu fahren, war es zu spät". Silke Müller wohnt in Biedenkopf. Das ist gut 30 Kilometer vom Marburger Universitätsklinikum entfernt. "Bevor es im Auto kam, wo es mit Sicherheit keine Überlebenschance gehabt hätte, fuhren wir ins Krankenhaus in Biedenkopf."

Dort angekommen wurde Leon gleich nach der Entbindung in einen Brutkasten gelegt. Für seinen Krankentransport nach Marburg brauchten die Sanitäter:innen über drei Stunden. Sie fuhren so langsam, um bloß keine Erschütterungen zu provozieren. Sonst hätte es zu Gehirnblutungen kommen können.

Während der vielen Wochen des Wartens und Hoffens hat Leon dann im Brutkasten im Marburger Klinikum zu viel Sauerstoff bekommen. "Es könnte auch ein Pflegefall werden", habe man der jungen Mutter gesagt.

Frühförderung

"Leon ist ja nur blind geworden. Und damit können wir gut leben." So sieht sie es heute, sechs Jahre später. Und Leon? Der sitzt auf dem Wohnzimmerboden und streichelt meine Blindenführhündin Sally. Silke nimmt seine Hand und zeigt ihm, wie es geht. "Die Feinmotorik ist noch nicht so hundertprozentig", erzählt sie, "Aber er bekommt Krankengymnastik und Ergotherapie". Silke Müller und ihr Mann Michael stehen, mit den Herausforderungen, die ein blindes Kind mit sich bringt, nicht alleine da.

Die Deutsche Blindenstudienanstalt in Marburg bietet Frühförderung für blinde Kinder an. Schon seit der Geburt besucht Claudia Rohde - eine Mitarbeiterin der Frühförderstelle - die Müllers einmal in der Woche. Seit Leon in den Kindergarten geht, kommt sie zusätzlich auch dorthin. Sie ertasten dann gemeinsam Bilder oder üben das Laufen mit dem Blindenstock draußen im Garten. Das Training im Straßenverkehr kommt häufig erst im Alter von 12 Jahren an die Reihe. Erst dann sind manche blinde Kinder in der Lage, Gefahren wirklich abschätzen zu können.

"Bei den Freund:innen hat sich durch Leon auf jeden Fall die Spreu vom Weizen getrennt", sagt Silke, jetzt wieder auf dem Ledersofa sitzend. Sie nippt an ihrem Kaffee. "Leute, die ich für gute Freund:innen gehalten habe, haben sich nicht mehr gemeldet. Und andere, die ich eher für lose Bekannte hielt, haben sich ganz eifrig gekümmert und sind ins Krankenhaus gekommen."

Sehen durch Tasten

Leon sitzt immer noch bei Sally und erkundet die Pfoten. "Warum hat sie denn so viele Füße", fragt er neugierig. Liebevoll beantwortet Silke die Frage und meint zu mir gewandt: "Blinde Kinder können sich eben immer nur das vorstellen, was sie ertastet haben. Man muss ihnen alles in die Hand geben."

Geburtsblinden Kindern fehlt jede optische Vorstellungskraft. Zu Bildern von Landschaften oder Farben - die wohl in vielen sehenden Menschen eine Flut von Gefühlen auslösen - fehlt Blinden jegliche emotionale Bindung. Jede Ausdehnung von Dimensionen muss anhand von tastbaren Modellen erfahren werden.

So genannte spät erblindete Menschen - also Blinde, die einen bestimmten Zeitraum ihres Lebens sehen konnten - haben dagegen in aller Regel noch bildliche Vorstellungen. Manche, im frühen Kindesalter erblindete, erinnern sich an Farben oder Schemen. Je später die Erblindung eingesetzt hat, desto mehr bildliche Vorstellungen sind präsent oder abrufbar. Trotz der Erblindung nach der Geburt fragt Leon nach Sallys Fellfarbe.

"Nach Farben zu fragen, obwohl er sie gar nicht sieht, ist eine neue Marotte von ihm", erklärt Silke, "Wahrscheinlich hört er das bei den anderen Kindern im Kindergarten." Nach dem er nun weiß, dass Sally schwarzes Fell hat, ist sie genügend erforscht.

Spiele für Blinde

Es gibt mittlerweile eine ganze Anzahl an Spielen für Blinde. Diese sind extra adaptiert - also speziell umgerüstet - und können in besonderen Geschäften gekauft werden. Das Spektrum reicht vom Geräuschememory bis hin zu modernen Computerspielen. Letztere natürlich ohne Grafik. Sie werden ausschließlich über Geräusche gespielt. Leons Eltern haben auch selbst einige Spiele für ihren Sohn adaptiert.

Leons Vater Michael kommt ins Wohnzimmer. Einen Tag in der Woche arbeite er zu Hause, erzählt er. "Mit Leon mal Fußball spielen oder Fahrrad fahren, das würde ich gerne. Das tut auch schon ein bisschen weh, dass das nicht geht." Aber das gemeinsame Toben im Garten, sozusagen Mann gegen Mann, das genieße er sehr.

Leon sei sehr aufgeweckt und aktiv, besonders im Garten, meint Silke. Auch sei sie durch den Filius mit ihren übrigen Sinnen viel aufmerksamer geworden. Oft höre sie Geräusche, die ihre Freundinnen nicht wahrnähmen. "Ist aber auch klar: Manchmal fragt mich der Leon, was das für ein Geräusch war. Und ich kann dann - sozusagen nachträglich - das Geräusch im Kopf wieder zurückholen", erklärt sie lachend.

Nach dem Spielen muss Michael wieder an die Arbeit. Das findet Leon gar nicht toll. Er will sich noch gerne etwas austoben. Also geht's mit der Mama noch in den Garten. "Da kennt sich Leon schon gut aus", meint Silke stolz, "Er weiß, wo alles steht und da bewegt er sich auch ganz frei".

Übergroßer Beschützerinstinkt

Der übergroße Beschützerinstinkt mancher sehender Eltern kann früher oder später zum Problem für ihre blinden Kinder werden. Einige Eltern lassen sie nur ungern selbstständig spielen und herumrennen. Das führt dann allerdings häufig zu Bewegungsmangel. Die Kinder neigen deshalb oft zur Fettleibigkeit und die natürliche Motorik des Körpers kann sich nicht normal entwickeln.

Als Folge können Verhaltensweisen entstehen, die Blinde salopp als "Blindismen" bezeichnen. Typische Beispiele hierfür sind Schaukeln mit dem Oberkörper, wackeln mit dem Kopf oder das Bohren mit den Fingern in den Augen. Die genaue Ursache dieses Verhaltens ist jedoch noch nicht genau geklärt. Um solche Verhaltensweisen gar nicht erst entstehen zu lassen, sorgt Silke für genügend Bewegungsfreiheit für Leon, etwa im Garten. Sein Lieblingsplatz ist auf der Schaukel. Da erreicht er schonmal Schwindel erregende Höhen.

Blindenschule

Im Sommer wird Leon eingeschult. Dazu soll er zunächst in die Blindenschule nach Friedberg, rund 90 Kilometer von Biedenkopf entfernt. Dort lebt er dann im Internat. Am Wochenende wird er aber immer nach Hause kommen. Nach der Grundschule soll er dann in Marburg in die Deutsche Blindenstudienanstalt gehen. "Dann haben wir ihn wieder hier bei uns", sagt Silke. Als so genannter Fahrschüler wird er dann jeden Tag nach der Schule nach Hause kommen. Dort könnte er dann später einmal das Abitur machen und danach - wie Silke hofft - einen guten Beruf erlernen.

Im Moment ist das aber noch Zukunftsmusik. Hoch hinaus will Leon erstmal mit der Schaukel. "Los Mama, schieb mich an. Ich will höher schaukeln!"

Adressen, die weiterhelfen

www.blista.de
Homepage zur Blindenstudienanstalt Marburg, hier findet man auch die Rehabilitätseinrichtung für Sehgeschädigte. Dort gibts auch die erwähnten Trainings für Blinde.

www.dvbs-online.de
Diese Adresse ist interessant, wenn es um Ausbildung und Studium der Kinder geht.

www.dbsv.org
Hier gibts allgemeine Informationen.

www.dertagwirdzurnacht.de
Hier gibt es das Audio-Computerspiel "Der Tag wird zur Nacht". Es ist aber nicht nur für blinde und sehbehinderte Kinder interessant. Bei diesem Spiel gibts was auf die Ohren!

www.bebsk.org
Bundesvereinigung Eltern blinder und sehbehinderter Kinder.

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